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Cover "Jagdbare Tiere" von Ronja Potstawa     Leseprobe "Jagdbare Tiere"

von Ronja Potstawa

Mystery-Thriller, 308 Seiten, ISBN: 978-3-96050-145-9 

Inhalt

Prolog
Kapitel 1 bis 42
Epilog

 

Prolog

Es ging ein Brief im Rathaus ein. An den Bürgermeister persönlich gerichtet. Dessen Sekretärin runzelte die Stirn, als sie ihn weitergab.
»Förderung einer Künstlerin. Sie will ein Atelier mieten und eine Galerie für ihre Ausstellung pachten.«
»Ich will auch so einiges«, murmelte der Bürgermeister hinter seinem Schreibtisch hervor. Er beendete die Lektüre und legte den Brief sorgfältig zusammengefaltet auf die mahagonigefertigte polierte Tischplatte.
»Sie will sich mit mir treffen. Im Wald.«
»Im Wald?«, fragte die Sekretärin ungläubig nach.
Als der Bürgermeister nur schweigend auf seine Computertastatur eintippte, räusperte sie sich und hakte nach.
»Was werden Sie tun?«
»Was wohl? Hingehen. Irgendetwas an ihr interessiert mich.«
Nach einigen Sekunden Stille sah der Bürgermeister von der Tastatur hoch und im nächsten Augenblick fiel ihm ein eigenartiger Ausdruck im Blick seiner Sekretärin auf; sie stand bereits zu lange dort vor seinem Schreibtisch und sah ihn schon zu lange und zu forschend an. 
Sein Ton war kalt, als er sagte: »Gehen Sie nur. Kochen Sie jemandem Kaffee.«
Die Finger der Sekretärin zitterten leicht, als sie ihr Klemm-brett laut knallend auf die Schreibtischplatte direkt neben den Brief schlug und sich zum Bürgermeister hinabbeugte, bis ihre Gesichter nur Zentimeter trennten, und sie raunte: »Lese ich den Namen dieses Mädchens in den nächsten achtundvierzig Stunden in der Tageszeitung oder sehe sein hübsches Gesicht in den Nachrichten, war das der letzte Kaffee, den ich hier gekocht habe.«
Dann drehte sie sich um und verließ das Büro und ihre Finger zitterten noch immer, als sie die Tür hinter sich zuzog.

Sein Fahrer ließ den Bürgermeister nur unter Protest bereits am Waldrand auf dem letzten Stück der geteerten Fahrbahn aussteigen.
»Aber Herr Bürgermeister, sind Sie sicher, dass ich Sie nicht begleiten soll?«
»Es wäre schade um den Wagen. Warten Sie einfach hier, ich bin bald zurück.«
Der Fahrer nickte still, stieg wieder ein, parkte den Wagen und zog außerhalb der Sichtweite des Bürgermeisters einen be-sonders blutigen dänischen Bahnhofskrimi hervor.

Die Luft kündete bereits von kommendem Schnee und Frost und es war beinahe gänzlich still im Wald, nur vereinzelte Kohlmeisen und Saatkrähen in fast kahlen Baumkronen. Feuchtes, braunes Laub dämpfte die Schritte des Bürgermeisters, als er zu der Kreuzung zweier Baumstämme ging, einer markanten Stelle.
»Ich wusste, dass Sie diesen Ort kennen würden.«
Eine helle Stimme, jung aber erwachsen. Die Künstlerin lehnte an einem der Stämme und lächelte den Bürgermeister geradewegs an. »Jeder, der sich gern im Wald aufhält, kennt diesen Platz.«
Dem Bürgermeister missfiel augenblicklich ihre Art und er zog die Augenbrauen hoch. »Sie halten sich nicht gern mit Formalitäten auf, wie?«
»Sie kennen mich und ich kenne Sie.«
»Warum hier?«
Die Künstlerin trat auf ihn zu. Sie trug ein helles Wollkleid, das ihr bis zu den dünnen Knien reichte, und darüber einen langen, braunen Mantel, der von fast demselben Schwarz war wie ihr langes, dünnes Haar.
»Ich habe mich über Sie informiert. Sie haben eine Geschichte mit dem Wald als Forstbeauftragter. Man fühlt sich in einer vertrauten Umgebung doch gleich wohler, nicht? Der Wald ist quasi Ihr natürlicher Lebensraum.«
Nun musste der Bürgermeister lachen. »Na ja, zumindest mehr als das Büro, da haben Sie schon recht. Wollen wir ein paar Schritt gehen, junge Frau?«
»Esther, nennen Sie mich Esther.«
»Ist das Ihr wirklicher Name?«
Esther legte den Kopf schief und lächelte wieder bittersüß. »Warum sollte er es nicht sein?«
»Sie sehen nicht aus wie eine Esther.«
»Und Sie nicht wie ein Jörg.«
»Woher kennen Sie meinen zweiten Vornamen?«
»Wie gesagt, ich habe mich über Sie informiert, Herr Bürgermeister.«
Sie schlenderten den Waldweg hinab, einen leichten Hang hinunter, Kies unter ihren Schuhen knirschte leise. Der erste Nebel des Nachmittags senkte sich zwischen den Bäumen her-ab und das Licht, das durch die letzten Blätter filterte, schien staubgrau.
Der Bürgermeister räusperte sich. »Was wollen Sie, Esther? Warum der Brief?«
Esther schüttelte verständnislos den Kopf. »Der Herr Bürgermeister. Selbst an seinem liebsten Ort noch so konzentriert.«
»Ich habe nie gesagt, was mein liebster Ort ist.«
»Nun, Ihr Schlafzimmer ist es sicher nicht.«
Der Bürgermeister packte Esther in Sekundenschnelle am Arm, ganz leicht nur, und wandte sich ihr zu. Sie starrte ihm fremd entgegen.
Beide sahen einander an, schweigend, und die Augen des Bürgermeisters wanderten rastlos Esthers schlanke Gestalt hinab, suchend nach Antworten, die er nicht erhielt.
»Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?«
Esther zögerte, dann entwand sie sich sanft seinem Griff und deutete auf die Baumstämme um sie herum.
»Ich bin wie diese Bäume hier. Ich brauche Ihre Hilfe.«
Der Bürgermeister verstand nicht und runzelte die Stirn. »Was für eine Hilfe?«
»Geld. Ich brauche Geld für ein Atelier und eine Galerie.«
Der Bürgermeister schmunzelte. »Ach ja, Sie sind ja Künstlerin.«
»Ja, und Sie Förster. Erklären Sie mir den Unterschied.«
»Schnell getan, Esther. Das eine ist ein Beruf, das andere Spinnerei.«
»Jetzt klingen Sie wie mein Vater, Herr Bürgermeister.«
»Kann der nicht für Sie bezahlen?«
»Der würde sich lieber eigenhändig sämtliche Finger absägen.«
Der Bürgermeister betrachtete Esther von der Seite, in deren dunkelgrüne Augen Ärger getreten war, der dort schon lange zu schlummern schien.
»Das tut mir leid, Esther, wirklich. Zumal er Ihnen so vermutlich einen mächtigen Vaterkomplex beschert hat.«
»Dass es kracht«, murmelte Esther.
Gegen seinen Willen musste der Bürgermeister lachen. Im selben Moment drehte sich Esther zu ihm um,  umfasste mit dünnen, blassen Fingern sein graues Mantelrevers und sah ihm eindringlich in die Augen. Das Lachen erstarb auf den Lippen des Bürgermeisters und er wurde schlagartig wieder ernst.
»Ich will, dass Sie mich ernst nehmen, Bürgermeisterchen. Nehmen Sie mich ernst?«, flüsterte Esther.
Der Bürgermeister betrachtete ihre schmalen, jugendlichen Züge mit den vor unterdrückter Erregung geröteten Wangen – vielleicht auch nur die kalte Winterluft – und die funkelnden dunkelgrünen Augen und strich ihr wie in Gedanken versunken eine verwehte schwarze Haarsträhne zurück hinter ihr kleines Ohr.
Sofort spürte er Esthers Ärger und schmunzelte wieder, nahm die Hand herunter und erwiderte: »Selbstverständlich.«
Er ließ den Blick durch den Wald um sie herum schweifen, als wären sie beide nur Spaziergänger an einem ruhigen Wintersamstag, als wären sie als reine Naturliebhaber hier, dabei war doch die Natur hier nichts weiter als ein wohlvertrauter Statist.
Esther hätte so gern mit ihren Händen seine Schläfen berührt, damit er sie wieder ansah, und der bloße Impuls hieb in ihr rohes Herz wie eine Axt in Holz.
Der Bürgermeister schien irgendetwas davon zu merken, denn er wandte sich ihr wieder zu.
»Geld sagten Sie, nicht wahr, Esther? Sie brauchen Geld.«
Esther wartete.
»Was, werte Esther, springt für mich dabei raus?«
In den hellen Augen des Bürgermeisters blitzte der Schalk, als habe er großen Spaß ob der Richtung, die dieses Gespräch einschlug.
Als sie ihn nur anstarrte, fuhr er fort: »Och, Esther, ich bitte Sie, ich muss dafür doch auch irgendetwas bekommen. Irgendeinen Preis müssen Sie zahlen, Esther. Das müssen wir alle, wenn wir etwas wollen.«
Esther antwortete nicht und wandte den Blick von ihm ab.
»Ah!«, erkannte der Bürgermeister lächelnd, legte sanft seine Finger unter Esthers Kinn und hob es leicht, sodass sie ihm wieder in die Augen sah.
»Sie haben mit dieser Frage gerechnet, möchten Sie aber nicht beantworten, habe ich recht?«
Esther schluckte und der Bürgermeister fühlte ihren Puls unter seinen Fingerkuppen.
Er legte den Kopf schief und sah sie zu lange an, bevor er sagte: »Nun, ich fürchte, Sie haben mich falsch eingeschätzt, Esther, mögen Sie noch so viel über mich wissen.«
Er betrachtete sie, den dunklen Schatten, der sich schnell über das lebendige Grün ihrer Augen schob, für den er verantwortlich sein musste.
Für einen Moment, nur eine vorüberhuschende Sekunde lang glaubte er, sie würde ihn küssen.
Doch schon im nächsten Augenblick wusste er, dass es nicht dazu kommen würde. Er sah es in diesem Dunkelgrün und fragte seufzend: »Wollen Sie nicht einfach mit mir schlafen, Esther? Das würde mir als Preis vollkommen ausreichen.«
Da war er endlich, der Ausdruck in diesem jugendlichen Gesicht, auf den er die ganze Zeit gewartet hatte, und er lachte leise.
»Och bitte, Esther. Ich scherze natürlich.«
»Natürlich.« Esthers helle Stimme klang dunkler und brüchiger. Angst oder Erregung oder beides.
»Ich kann Ihnen gern Ihren Preis nennen, Herr Bürgermeister. Es ist der Fortbestand Ihres Prestiges.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Esther.«
Esther fand ihr bittersüßes Lächeln wieder. »Sie verstehen mich schon, Bürgermeister. Sie können alles behalten, Ihre Stellung, Ihren Job, Ihr Ansehen – alles bleibt bestehen, wie es ist.«
Der Bürgermeister trat einen Schritt vor ihr zurück und es fiel beiden schlagartig auf, wie nahe sie sich gewesen waren.
»Das heißt im Umkehrschluss«, folgerte der Bürgermeister, »sollte ich Ihnen das Geld nicht zahlen ...«
»… nehme ich Ihnen alles, was Ihnen etwas bedeutet. Sehen Sie, die Gleichung geht bestens auf: Für mich ist es die Kunst, die mir alles bedeutet. Für Sie ist es Ihr Prestige. Das Eine gegen das Andere, ein ausgeglichener, gerechter Handel.«
Esther konnte in den hellen Augen des Mannes vor ihr deutlich lesen, dass er verletzt war, doch dieser Ausdruck flog so schnell vorüber, dass sie im nächsten Moment nur noch Wut sah. Eiskalte, stockstarre Wut.
Der Bürgermeister starrte Esther an, dann schüttelte er den Kopf und wich noch weiter zurück, bevor er doch noch einmal näher an sie herantrat und ihr zuflüsterte:
»Das ist nicht gerecht, das ist gestört, Esther. Oder wie auch immer Sie heißen. Für einen Moment habe ich tatsächlich geglaubt ...« Er brach ab und sein Blick wanderte rastlos über ihre Züge.
»Was?«, flüsterte Esther.
Da wich der Bürgermeister endgültig vor ihr zurück, schüttelte den Kopf, drehte sich um und war im Begriff zu gehen.
Esther umgriff seine Schulter und hielt ihn fest.
»Sie ... Sie wissen, was Sie da tun? Irgendwie komme ich an mein Geld, ob Sie es mir nun freiwillig geben oder es Schmer-zensgeld wird. Ich mache das wirklich.«
Er betrachtete sie kurz, dann lachte er freudlos auf und sagte leise, kaum hörbar:
»Jeder schaufelt sich sein eigenes Grab, Esther. Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Dann verließ er sie endgültig langsamen Schrittes, auf dem Weg zu seinem Fahrer zurück den Waldhang hinauf.
»Das werde ich!«, schrie Esther ihm noch hinterher, doch der Bürgermeister lächelte nur müde.

Wenige Stunden später, als die Nacht bereits über die Stadt und die Felder und Wälder gefallen war, ertönte vielfach lautes Hupen verschiedener Wagen auf der Landstraße. 
Im Scheinwerferlicht einer der Wagen sah man eine junge Frau, ein Mädchen, das in zerrissenen, scheinbar blutver-schmierten Kleidern den Waldweg zur Straße hinabwankte, um Hilfe rief und schließlich erst am Rande der Straße weithin sichtbar zusammenbrach und auf Nachfrage eines Sanitäters nur leidend flüsterte:
»Der ... Bürgermeister ... Es war der Bürgermeister.«

Kapitel 1
 

Das Geräusch von laufendem Wasser. Kaum mehr als ein Rinnsal. In der Küche des kleinen Hauses war es still, als ein Mann sich über dem Spülbecken die Hände wusch. Still und halbdunkel. 
Der Mann hatte kein Licht eingeschaltet, als er in den Raum gewankt war. Alles drängte ihn nur danach, das Wasser auf seiner Haut zu spüren, alles abzuwaschen. 
Erst unter dem aufgedrehten Wasserhahn hörten seine Finger langsam zu zittern auf. Warmes Wasser auf kalten Fingern.
Der Mann schloss die Augen und konzentrierte sich darauf zu atmen. Sein Herz raste noch immer. Er wollte sich setzen, doch er brauchte die Gewissheit, dass seine Hände sauber waren, noch mehr. 
Dass sie menschlich waren.
Er lehnte sich mit seinem ganzen Körper über die Anrichte, machte sich kleiner. Er wollte sich auf die kleinste Fläche zusammendrängen, so als würde er dann auch nur ein Teil all dessen, was er war. 
Nur ein Teil. 
Als hätte etwas, jene höhere Instanz, an die er so fest und unerschütterlich glaubte, sein Ringen mit sich bemerkt, füllte eine Erinnerung seine Gedanken.
Er sah sie vor sich, hinter seinen geschlossenen Augen, und er spürte, wie sein Atem ruhiger wurde und seine Finger zu zittern aufhörten.
Er sah sie neben sich stehen, ihre schmale Gestalt aufrecht, gefasst.
Es war eine Erinnerung, die Jahre zurücklag, und doch kam es ihm so vor, als erlebte er diesen Moment zum ersten Mal.
Er sah ihr Kleid vor sich, dunkel und schwingend, bis zu ihren kleinen Knöcheln hinab. Sie hatte nicht ihn angesehen, sondern die Bäume vor ihnen. Er hatte zu ihren Kronen aufgeblickt und erst da war ihm etwas aufgefallen. 
Auf jenen kahlen Ästen, die noch vor wenigen Augenblicken leblos und verwaist gewesen waren, hatten sich Vögel eingefunden, manche flogen noch lautlos zu den Plätzen hin, wo noch keine anderen waren. Krallen, die unsichtbare Spuren in die Rinde kratzten. Der Mann hörte jedes Scharren auf dem kalten Holz, jeden Flügelschlag.
Er hatte ihren Blick von der Seite her auf sich gespürt, bevor sie seinen Augen folgte.
Als sie nun sprach, wusste er, dass die scheinbare Abwesen-heit jeglicher Emotion in ihrer hellen Stimme das Gegenteil bedeutete.
»Vögel haben schon immer meine Nähe gesucht. So nah. Ich habe mir nie etwas dabei gedacht. Wie auch. Ich habe immer nur gedacht, dass sie etwas gefühlt haben, dass sie gespürt haben, dass ich nie zu irgendetwas gehört habe. Oder zu irgendjemandem.«
Er hatte sie angesehen, doch ihr Blick war auf die Vögel in den Bäumen gerichtet geblieben.
»Jetzt«, hatte sie hinzugefügt, »da ich weiß, was ich bin, glaube ich, dass sie mir immer zeigen wollten, dass sie es sind, zu denen ich gehöre. Immer schon. Und weiterhin, solange ich lebe.«
Sie hatte geschluckt und etwas ihrer sorgsam aufrecht erhaltenen Contenance hatte begonnen zu wanken.
»Denn was ich bin, lässt sich nicht ändern.«
»Was, wenn doch?« Die Frage war ihm herausgerutscht, bevor er länger über die Worte hatte nachdenken können.
Das hatte ihr den Atem geraubt, für wenige Sekunden. Dann war die Contenance wieder da gewesen und sie hatte ihn endlich angesehen.
»Das ist keine Erkrankung. Keine Krankheit. Es ist sein eigenes Wesen. Seine eigene Kreatur. Wofür wäre dieses Mittel? Für mich selbst?«

Der Mann öffnete die Augen und er war erneut allein. Das Rinnsal Wasser, das noch immer über seine Hände lief, rauschte in seinen Ohren. Er stellte es ab.
Drei weitere Tage. 
Noch drei Tage ohne sie.
Ein schrilles Geräusch forderte seine Aufmerksamkeit und er warf einen letzten Blick hinab auf seine Finger. Dann griff er nach dem Geschirrtuch, trocknete flüchtig seine Hände und zog sein Handy aus seiner Jacke, die über einem Küchenstuhl hing. Er meldete sich wie üblich mit seinem Nachnamen.
»Wolfer?«

Es war noch nicht mal später Nachmittag und doch schon dämmrig dunkel, als er den Wagen abstellte. Wolfer wollte den Rest des Weges zu Fuß gehen. 
Er schloss die Wagentür so leise wie möglich, dachte an die Rehe und das Kleingetier des Waldes, das sich allzu oft bis hierhin verirrte und so scharfe Sinne hatte und so leicht zu verschrecken war.
Schotter knirschte unter seinen Schuhen, als er langsam den Waldhang hinaufstieg. Man hatte ihm den Weg am Telefon nicht treffend beschreiben können, doch Wolfer kannte diese Landschaft und ihre Wälder besser als die meisten seiner Ver-wandten. Dennoch musste er Ausschau nach den Männern halten, die ihn hier herbeordert hatten. 
Während er ging, besah er sich den Boden.
Hier war der Schnee pur, weiß und er glitzerte mit all seinen Eiskristallen nur deshalb nicht, weil die Sonne nicht schien.
Doch er sah kein Blut. Der Schnee musste erst danach gefallen sein. Neuschnee.
Die Kirchenglocken begannen zu läuten, während Wolfer ging. Er lächelte und sah durch zwei kahle Laubbäume hinab Richtung Tal, wo die Kirchturmspitze weithin sichtbar war. Die kleine katholische Kirche, in der er schon so oft gewesen war. Er sah die Deckenbemalungen vor sich, Jesus, Maria, die Engel. Er spürte schon das widerständige Holz der harten Kirchenbank.
Nie hatte er verstanden, wie sich viele Menschen darüber beschweren konnten, dass Kirchenbänke hart waren, unbequem, eigen. Alt und unveränderlich.
Man musste es doch spüren, musste doch an der Haltung, in die einen diese Bänke zwangen, schon merken, wo man war. Die gepolsterte, weiche Kirchenbank wäre ein Widerspruch in sich.
Wolfer roch schon die Seiten des Liederprospekts vor sich, den Geruch erst kürzlich bedruckten Papiers des Prospekts, am Abend zuvor ausgedruckt von einem Mädchen aus dem Chor, Tabea. Er sah sie vor sich, als sie die Zettel ausgab, während die ersten Gottesdienstbesucher durch die hohen Türen eintraten. Ein ruhiges Lächeln. Helles, geflochtenes Haar.

Jeder Glockenschlag brachte ihn tiefer in den Wald. 
Wolfer fand noch immer keinerlei Spuren auf dem Unter-grund. Er roch auch nichts, das dem Wald nicht ohnehin zu Eigen war. 
Durch die lichten, kahlen Stämme spähte er rechts auf den Hang, Rebenskelette im Schnee. Unten auf dem Boden Krähen-spuren. Gekrächze in der Ferne, überlagert von den Kircheng-locken. Im nächsten Moment verstummte das Geläut und Wolfer sah die Männer von der Spurensicherung. Einer von ihnen sah hoch und ihn ebenfalls an, als er sich ihnen näherte. 
»Ah, Sie haben’s gefunden.«
Wolfer ging langsam auf den Mann zu, der ihn angesprochen hatte, den Blick auf den Boden gerichtet, um keine Spuren zu übersehen. Er nickte unbestimmt in Richtung des Technikers und kniete knapp vor einer Stelle zu Boden, an der mehrere Blutspritzer auf Ästen und dem Waldboden zu sehen waren. 
Er besah sich die rostroten Flecken, die nicht hierher gehörten und fragte leise: »Was haben wir hier, Herr Krupcik?«
Der Techniker wischte sich mit einem Unterarm über die Stirn, schien trotz der Kälte zu schwitzen. Vielleicht wollte er auch nur die Bedeutsamkeit seiner Arbeit unterstreichen. Wol-fer vermutete Letzteres.
»Das ist der Tatort, wenn wir Glück haben.«
Wolfer sah nicht auf.
»Was meinen Sie damit?«
»Es könnte auch Tierblut sein. Das wissen wir erst nach den Tests, aber die Stelle würde passen«, erwiderte Krupcik ohne hörbare emotionale Beteiligung. 
Aus den Augenwinkeln sah Wolfer, dass Krupciks Kollegen bereits ihre Utensilien verstauten und nicht mehr lange bleiben würden. Es wurde immer dunkler; das Tageslicht schwand. Wolfer seufzte leise.
»Würden Sie etwas weiter ausholen, Herr Krupcik, wenn ich bitten darf.«
Er wusste, dass der Techniker nichts dagegen haben würde; er war der Einzige, dessen Bestreben es war, mit Wolfer zusammen- anstatt ihm entgegenzuarbeiten.
»Sie haben es noch nicht gehört, das wundert mich. Die Stadt ist schon in Aufruhr«, sagte Krupcik und das ließ Wolfer aufhorchen. 
Ihre Stadt war weder groß noch klein. Vor ein paar Jahren war es noch eine Kleinstadt gewesen, aber dank der Thermen und neuen Hotels und einer besseren Autobahnanbindung wurde sie stetig größer. 
Wolfer hatte sich daran gewöhnt, unterstützte aber keinerlei Projekte zur Ausweitung seiner Wahlheimat. So war die Stadt noch klein genug für Rundtischgespräche und Familien¬zwiste zwischen Landschaftsgärtnereien, doch nicht allzu schnell durch Neuigkeiten aus der Ruhe zu bringen. Es musste sich etwas Eigenartiges zugetragen haben, etwas Ruchloses, etwas im schlimmsten Sinne Besonderes.
»Nein, ich habe es nicht gehört. Geht es um den Eigentümer dieser Bluttropfen?«
Krupcik sah ihn an und wieder war seine Haltung nüchtern, sein Blick unberührt. Er war ein Mann, der der Auffassung war, dass die Welt kein bunter Ort war, dass vieles unter der Oberfläche lauerte und verborgen blieb, bis sich so viel Widerwärtigkeit angestaut hatte, dass sie hervorkommen musste aus ihrem morschen Versteck. Die Blüte alter Rosen.
»Es hat letzte Nacht einen Vorfall gegeben. Das Opfer, dessen Blut wir hier vermutlich sehen, ist unten an der Landstraße gefunden worden. Lebendig, kaum noch.«
Krupcik deutete mit noch immer behandschuhten Fingern auf den Weg, über den Wolfer zu diesem Ort gekommen war.
»Hier muss es langgekommen sein. Wie Sie wissen, führt dieser Weg direkt zur Landstraße. Es war nicht leicht, den Spuren zu folgen. Der Neuschnee. Doch bis hier sind wir gelaufen und hier ist das meiste Blut.«
Wolfer spürte Krupciks Blick auf sich, während er all dies verarbeitete. Dann sah Wolfer hoch, an Krupcik vorbei und nach oben. 
Von der Stelle, an der er jetzt kniete, sah man bei einem Blick gen Himmel zwei Baumstämme, die einander schief kreuzten. 
»Eine markante Stelle«, artikulierte Wolfer seine stillen Gedanken zum ersten Mal laut vernehmbar. »Jeder, der gern im Wald ist, kennt sie.«
»Stimmt«, erwiderte Krupcik und blickte ebenfalls auf das naturgegebene Kreuz aus Holz.
Wolfer schüttelte langsam den Kopf, drehte sich um und sah Krupcik das erste Mal seit Beginn ihres Gesprächs in die Augen.
»Das gefällt mir nicht.«
Krupcik zog die Handschuhe aus, verknotete sie, zog eine zerknautschte Packung Zigaretten aus der Tasche seines Overalls und aus der anderen eine ebenso lädierte Packung Streichhölzer. Wolfer sah kurz weg, als Krupcik die Zigarette anzündete. 
Das aufflammende Streichholz.
Er sah ihn wieder an, als Krupcik den ersten Rauch in die Winterluft blies, die Zigarette rot glimmend in seinen blassen dünnen Fingern, die bläulich wirkten in der Kälte. 
Dann nickte Krupcik als Antwort auf Wolfers letzten Satz.
»Sie kennen noch nicht die ganze Geschichte«, sagte er und zog wieder an der Zigarette, betrachtete Wolfer dabei.
»Das erste Kapitel ruft bereits nicht nach einer Fortsetzung, Herr Krupcik«, erwiderte Wolfer und versuchte, hinter Krupciks polarblauen Augen eine Lösung zu finden, nach et-was, das ihn von hier fortbringen und das Ereignis, dessen Spuren ungewollte Zeugen sie nun wurden, ungeschehen machte.
Vergebens.
Krupcik atmete Rauch aus.
»Schon im Prolog ist einiges passiert. Das Opfer hat seinen Täter genannt.«
Wolfer sah ihn an und fragte nichts. Krupciks nächsten Worten fehlte jene Sensationslust, jenes Weiden am Skandal, das ein Großteil der übrigen Menschheit nicht hätte vermeiden können.
Doch Krupcik war nicht so; Krupcik war Tscheche, nüchtern, konsequent und uninteressiert am Treiben der Menschheit, das nicht ihn betraf, das oberflächlich war und inhaltslos. In der Schule hatte man ihm Hakenkreuze in Schulhefte und auf Pulte geschrieben, an denen er saß, als man mitbekommen hatte, dass seine Familie jüdisch war; selbst Lehrer hatten seinen Akzent schamlos persifliert und sich geweigert, seinen Namen korrekt auszusprechen und ihn weiterhin »Thomas« genannt, wie jene Thomas Müllers, die sie gewohnt waren und gedankenlos zur Bildungselite heranzogen.
All dies hatte Krupcik Wolfer mal gesagt, als sie sich auf Krupciks kleiner Terrasse mit Krimsekt betrunken hatten, bis sie beide nicht mehr geradeaus gehen konnten. Da hatte Wolfer ihm auch von Resa erzählt. Nicht alles, natürlich.
»Es war der Bürgermeister«, sagte Krupcik und sah Wolfer direkt in die Augen. »Das hat sie den Sanitätern noch geflüstert, bevor sie das Bewusstsein verloren hat.«
Wolfer kam es augenblicklich noch kälter vor in der Mitte des Waldes mit der Dämmerung, die cyanblau um sie fiel, und den kahlen Bäumen und dem Schnee, der nicht mehr allzu harmlos wirkte, wenn er nicht glitzerte und nicht den Tag aufhellte zu einer Zeit, da es sonst schon dunkel gewesen wäre. Wolfer bemerkte mit einem Mal, dass er jedes Zeitgefühl verloren hatte.
»Wer ist sie?«, fragte er schließlich.
Krupcik zog noch einmal an der Zigarette, blies den Rauch in die Luft und erstickte den Filter im Schnee zwischen seinen Schuhen.
»Interessant, dass das Ihre erste Frage ist. Sie heißt Esther Fellhauser. Sie malt. Erfolglos. Bisher.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Intensiv. Da muss sie auch noch länger bleiben. Heute sollte niemand zu ihr.«
Wolfer nickte.
»Wollen Sie nicht auch wissen, wo der Bürgermeister ist?«, fragte Krupcik und sah Wolfer ausdruckslos an.
Wolfer ließ einen Blick über die Stelle schweifen, an der man die Blutspritzer gefunden hatte, über die kahlen Baumstämme und die vereinzelten Tierspuren im Schnee, von denen er jede sah, als hätte er sie selbst verursacht; er hörte das Knistern winterzarter Äste, von Bewegungen des Kleingetiers im Unterholz, jedes Rascheln kalter schwarzer Federkleider und jedes Scharren nach vergrabenen Haselnüssen.  Wolfer hörte gar die kleinen Krallen, die präzis die Schale bearbeiteten, sie an genau der Stelle aufknackten, wo man am leichtesten an die Beute gelangte. 
Er hörte und roch und sah alles, was es hier wahrzunehmen gab, und sagte leise zu Krupcik:
»Der interessiert mich nicht. Noch nicht.«

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Textprobe: Ronja Potstawa

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