Leseprobe "Fette Sau"
von Christiane Kromp
Roman, ca. 300 Seiten, ISBN: 978-3-96050-201-2
INHALT
Teil 1: Lore
1. Ein schrecklicher Geburtstag
2. Wie nimmt man ab?
3. Doktor Lehmanns Vorschlag
Teil 2: Julia
1. Ankunft im Rehazentrum
2. Eine neue Welt
3. Wasserballett
4. Hunger
5. Ein nächtlicher Ausflug
6. Der Spieleabend
7. Mirko
8. Franziska kocht
9. Schmetterlinge und eine Feindin
10. Freundinnen
3. Teil: Heimkehr
1. Neue Lore, alte Welt
2. Spring doch!
3. Gefühllos
4. Sieg auf ganzer Linie
Anmerkungen der Autorin und Danksagungen
Teil 1: Lore
1. Ein schrecklicher Geburtstag
»Schaut mal, da kommt sie ja, die fette Sau!«
Lores Herz zog sich zusammen. Jeden Tag dasselbe, dachte sie. Jeden einzelnen Schultag waren diese Worte die ersten, die sie zu hören bekam.
»Ja, da ist sie, die fette Sau! Fette Sau, fette Sau«, hörte sie die anderen im Chor singen.
Dabei hatte sie doch heute Geburtstag. Aber natürlich war dieser Tag keine Ausnahme. Wie hatte sie denken können, dass das irgendetwas ausmachte? Sie war heute dreizehn Jahre alt geworden. Normalerweise ein Grund zur Freude. Aber die anderen würden ihr den Tag wieder zu verderben suchen, das wusste sie jetzt schon.
Eigentlich sollte sie sich inzwischen dran gewöhnt haben, von ihren Mitschülern auf diese Weise begrüßt zu werden. Aber das konnte und wollte sie nicht über sich bringen. Denn das hatte sie nicht verdient.
Ärgerlich wischte sie eine Träne von ihrer Wange. Sie tarnte die Bewegung damit, dass sie ihre langen Haare nach hinten strich. Die dicken lilablauen Strähnen fielen sofort wieder zurück in ihr Gesicht, doch das war ihr nur recht.
»Schaut mal, ich glaube, die heult!«
Triumphierend klang ihr die Stimme von Saskia im Ohr, ihrer schlimmsten Feindin in der ganzen Klasse. Dabei hatte sie dem Mädchen nie etwas Böses angetan.
»Heul doch, heul doch«, hob der böse Chor von Neuem an.
Seit Lore vor ein paar Minuten den Schulhof betreten hatte bis jetzt, als sie in das Schulgebäude eintrat, hing ihr eine immer größer werdende Traube von Mitschülern an den Fersen. Sie hatte das Gefühl, die anderen hatten ihr aufgelauert, damit sie sie schon auf dem Weg in die Klasse quälen konnten. Wie ein Wespenschwarm, der immer wieder versuchte, sie zu stechen, und das so oft wie möglich. Und es tat weh. Verdammt weh sogar.
Sie mussten über die große Schultreppe bis in den zweiten Stock hochsteigen, um ihren Klassenraum zu erreichen. Wie immer, ging Lore beim Erreichen des ersten Stockwerks die Luft aus. Ihre Lunge pfiff wie ein Blasebalg und ihre Beine schmerzten. Sie musste eine Pause einlegen. Hinter ihr johlten ihre Mitschüler schon wieder über ihre Schwäche.
»Die Treppe ist für Gewichte über dreieinhalb Tonnen gesperrt«, rief Jerome. Das ganze Treppenhaus hallte wider von wieherndem Gelächter. Lore zog den Kopf ein und biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen. Wie gemein das war!
Laut schnaufend zog sich Lore weiter am Treppengeländer empor. Das ging ziemlich langsam. Auf dem dritten Treppenabsatz musste sie zum zweiten Mal ausruhen. Warum, verdammt, war das so schwer? Mit großer Mühe erreichte Lore den zweiten Stock, über ihre Kräfte angetrieben von den Spottrufen ihrer Mitschüler, denen sie lieber keine weitere Schwäche zeigen wollte. Bunte Lichter tanzten für ein paar Sekunden vor ihren Augen und sie atmete schwer.
Jetzt überholten sie Saskia und Jerome, staksten unter dem Gelächter der ganzen Meute breitbeinig auf dem Flur vor ihr her, als wären sie Tonnen auf Beinen. Sie ruderten dabei Gleichgewicht suchend mit den Armen. Als ob sie, Lore, so gehen würde! Dazu schnauften sie geräuschvoll. Es war einfach nur gemein! Lore schluckte mühsam die Tränen hinunter, die schon wieder in ihr aufsteigen wollten. Die Genugtuung, dass sie weinte, wollte sie ihren Feinden nicht geben. Besonders nicht Saskia, die gerade ihre Wangen kugelrund aufblies, dabei schielte und mit all ihrer Schminke aussah wie eine deformierte Barbiepuppe. Sie hüpfte vor Lore auf und ab und winkte mit ihren langen Fingernägeln so vor Lores Gesicht herum, dass diese voller Schreck an eine krallenbewehrte Raubkatze denken musste.
»Lasst mich endlich in Ruhe«, schrie Lore. Sie hörte selbst den panischen Unterton.
»Lasst mich endlich in Ruhe, lasst mich endlich in Ruhe«, äfften die anderen sie nach. Hätte sie bloß gar nichts gesagt. Ihr Herz stach in ihrer Brust, die sich immer noch von der Anstrengung des Treppensteigens viel zu schnell hob und senkte. Wäre sie doch bloß nicht so fett!
Sie atmete tief durch und betrat den Klassenraum. Es war noch vor acht, daher war die Lehrerin noch nicht hier. Es herrschte das übliche Chaos, die Kinder rannten durch das Zimmer und bewarfen einander mit Radiergummis. Laut war es in der 7c. Als Lore aber hereinkam, wurde es schlagartig ruhig. Alle beobachteten sie, flüsterten einander etwas zu. Die Stille hatte etwas Bedrohliches, etwas Lauerndes. Wie ein Raubtier, das sich auf den Sprung vorbereitet.
»Buh«, riefen plötzlich zehn Kinder auf einmal. So laut zerriss das die eben noch herrschende Lautlosigkeit, dass Lore vor Schreck zusammenzuckte und ihren Ranzen mit einem Krachen zu Boden fallen ließ. Die ganze Klasse lachte.
»Hast du gerade gefurzt?«, krähte Jerome und hielt sich die Nase zu.
»Ihhh, die fette Sau hat gefurzt! Rette sich, wer kann«, kreischten Saskia und Bernadette und liefen zur anderen Seite des Klassenraumes. Tosendes Gelächter hallte von den Wänden wider.
Lore fühlte, wie eine Hitzewelle ihr Gesicht bis zu den Haarwurzeln zum Glühen brachte. Am liebsten wäre sie im Boden versunken, versuchte aber, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. Sie schob ihren Ranzen zur Seite des Tisches und setzte sich langsam auf ihren Stuhl.
»Ey, Fettsau, pass auf, dass der Stuhl nicht unter dir zusammenkracht,« kommentierte Ali ihre Bewegung. Ein erneutes Anschwellen des Gelächters belohnte diesen Witz.
»O ja, der arme Stuhl!«
»Ich möchte nicht der Stuhl sein!«
»Seht ihr, wie der sich biegt? Der hat bestimmt schon einen Riss!«
»Kein Wunder, bei der Belastung!«
»Ruhe!«, rief eine energische Stimme. Es war die von Frau Jones, der Englischlehrerin. Frau Jones war sehr streng. Die Kinder drehten sich zu ihr um und setzten sich in dem Moment, als die Lehrerin in die Hände klatschte und rief: »Sit down, boys and girls!«
Die beiden Englischstunden gefielen Lore gut. Da war sie wie in ihrem Element. Sie hatte gute Noten in Englisch. Und Frau Jones gratulierte ihr zum Geburtstag.
»Everybody will now sing Happy Birthday for Hanna!«, wies sie die Klasse an. Hanna war Lores englischer Name, den sie sich in der ersten Englischstunde ausgesucht hatte. Ein lahmer Chor setzte ein. Keiner traute sich, die Lehrerin zu ignorieren. Die Blicke allerdings, die die anderen Lore zuwarfen, waren mörderisch. »Das wirst du uns nachher büßen!«, schienen sie zu sagen.
Frau Jones teilte die Tests wieder aus, die sie in der letzten Woche geschrieben hatten. Lore hatte eine Eins. Ein frohes Lächeln verbreitete sich über ihr Gesicht.
»Was grinst du so blöd, fette Sau?«, fauchte Saskia von schräg vor ihr. Lore riskierte einen Blick auf Saskias Bogen. Saskia deckte sofort ihre Zensur ab, doch Lore hatte sie schon gesehen. Das sah nach einer fetten Fünf aus. Lores Lächeln wurde breiter.
»Das kriegst du wieder!«, schien Saskias Blick zu versprechen. Oh je, sie würde schnell sein müssen nach der Stunde. Oder aber sehr langsam.
Um neun Uhr dreißig klingelte es zur Hofpause. Die Kinder johlten los und die meisten stürmten wie befreite Dämonen aus dem Klassenraum. Lore trödelte. Sie packte langsam ihre Bücher und Hefte wieder ein und ihr Pausenpäckchen aus. Ihre Mutter hatte ihr heute einen Apfel geschnitten, das konnte sie schon durch die Brotbox sehen. Und zwei Schwarzbrotschnitten mit Schinken lagen auch dabei. Lore entschied sich für eines der Brote. Trotz aller Hänseleien, heute Morgen hatte sie richtig Hunger. Immer wenn sie etwas aß, fühlte sie sich besser. Besonders nach einem solchen Morgen.
Langsam und umständlich packte sie das Brot aus und gönnte sich einen ersten Bissen. Hmmm, wie köstlich das schmeckte. Lore schloss die Augen.
»Los, Hanna, es wird Zeit, dass du auf den Hof gehst!«, erinnerte sie Frau Jones. Sie sagte es freundlich, aber sehr bestimmt.
»Na los, husch, husch!«, lachte die Lehrerin und unterstrich ihre Worte mit wedelnden Händen. »Ich muss doch die Klasse abschließen.«
Kauend schlenderte Lore zum Ausgang und schaute nach links und nach rechts. Keiner war zu sehen. Waren alle schon draußen? Hatten sie sie vergessen? So unauffällig wie möglich hielt sie sich weiterhin in der Nähe von Mrs. Jones, schlenderte einfach essend hinter der Lehrerin her, die Treppe hinunter und in den Hauptgang und auch dort folgte sie Mrs. Jones, bis die im Lehrerzimmer verschwand. Der Flur war in beiden Richtungen leer. Lore atmete auf. Sie blickte auf ihr Handy. Sieben Minuten der Hofpause hatte sie schon unbelästigt überstanden. Nur ein paar Meter weiter lagen die Mädchentoiletten. Was, wenn sie den Rest der Pause dort verbrachte? Noch einmal schaute sie nach beiden Richtungen. Alle schienen draußen zu sein. Sie hörte ja von hier aus das Schreien, Kreischen und Johlen von allen Jahrgangsstufen. Schwimmbadatmosphäre, nur ohne Chlorgestank.
Eilig schlich sie sich zu den Toiletten hinüber. Gerade, als sie die Außentür mit dem stilisierten Mädchen darauf öffnen wolle, wurde ihr die Klinke aus der Hand gerissen und wüstes Gekicher drang ihr entgegen. Vor ihr standen – Saskia, Bernadette, Sophia und Laura. Keine davon war ihre Freundin.
»Ihhh, das ekelhafte Monster!«
»Schaut mal, wie blöde die glotzt!«
»Die frisst und rennt zum Klo!«
»Warum platzt du nicht einfach?«
»So widerlich. Bäää!«
Die Mädchen lachten hämisch. Saskia begann damit, Grunzgeräusche zu machen. Eine nach der anderen fielen die Mädchen ein, bis es Lore entgegen grunzte wie ein ganzer Schweinekoben.
»Ach, und unser fettes Schwein hat ja heute Ge-burts-tag…«, dehnte Bernadette und verdrehte die Augen. »Ihr singt jetzt Häääppi Bööörsday für sie!«
»Genau. Deine fette Schweinemutter füttert dich heute bestimmt mit Schokoladenkuchen.«
»Meine Mutter ist kein Schwein!«, wehrte sich Lore, doch es klang sehr leise und weinerlich.
»Hä?«
»Was hat sie da gegrunzt?«
»Ich habe es auch nicht verstanden. Kann eben nur ein Schweinchen, nicht wahr?«
Und wieder hob das Grunzen an.
Mittlerweile kullerten zwei dicke Tränen über Lores Wangen.
»Ooooch, schaut mal, die Kleine heult. Ooooch, das ist aber traurig.«
Die Mädchen hatten Lore inzwischen umrundet und drängten sie in das Mädchenklo.
»Sooo, dann werden wir dem Baby mal das Gesicht abwaschen und den Rüssel schneuzen!«
Mit Feuereifer machten sich die Mädchen ans Werk. Sie nahmen sich Klopapier, tunkten es ins Klo und versuchten, ihr damit grob über das Gesicht zu wischen. Lore wand sich, um dem ekligen Lappen zu entgehen, doch die anderen drängten sie schließlich in eine Ecke und hielten sie da zu dritt fest, während Saskia sich daran machte, Lore den triefenden Klolappen durchs Gesicht zu reiben. Ihr schönes Schinkenbrot war ihr bei dem Gerangel aus der Hand gefallen und lag auf dem dreckigen, überschwemmten Fußboden. Lore konnte sich einen Moment von den sie haltenden Händen befreien und es gelang ihr, Sophia in die Hand zu beißen. Sophia zog ihre Hand mit einem Schmerzenslaut zurück und knallte Lore eine. Ausgerechnet jetzt knurrte Lores Magen. Der Zeitpunkt dafür hätte nicht unpassender sein können. Die anderen hörten dieses Geräusch und machten sich natürlich sofort darüber lustig.
»Ohhh, die Fressmaschine hat Hunger!«, kreischte Bernadette.
»Hilfe, passt nur auf, sonst frisst sie uns noch!«, rief Sophia, die Lores Zahnabdrücke noch auf dem Handrücken hatte.
»Ach nein, das würde sie doch nie machen, nicht war, Fettkloß?«, gurrte Saskia mit falscher Sanftheit. Die Drohung dahinter entging Lore jedoch nicht. Suchend schweiften Saskias Blicke über den Fußboden und blieben an Lores herunter gefallenem Schinkenbrot hängen.
»Ah, da ist es ja. Das wolltest du doch gerade fressen, nicht wahr?«
Bernadette fixierte Lore mit dem Unterarm über der Kehle, Sophia und Laura hielten sie in die Ecke gedrängt. Währenddessen hob Saskia das matschige Brot auf und näherte sich damit Lores Mund.
»Na los, mach das Mäulchen auf. Hier kommt was Gutes!«
Lore wand sich, doch konnte sie der Übermacht nicht entkommen.
»Na, los. Ein Häppchen für die fette Schweinemami…«
Das nasse Brot drängte sich an Lores Mund, den sie jedoch fest zusammengepresst hielt. Soweit es ihr möglich war, wendete sie sich ab, sodass das angeweichte Brot jetzt gegen ihre Wange drückte.
»Los, machs Maul auf!«, befahl Saskia jetzt. »Du kannst es doch sonst auch nie erwarten, da was reinzustopfen!«
Wortlos trat irgendjemand Lore mit voller Wucht vors Schienbein. Sie schrie vor Schmerz, sank an der Wand zu Boden und riss den Mund weit auf. Das war die Gelegenheit, auf die Saskia gewartet hatte: Mit Schwung quetschte sie Lore das dreckige Brot in den Mund.
»Komm, mach schön fressi fressi!«, sang Saskia. Die Mädchen lachten, ließen aber von Lore ab. Übelkeit brandete in ihrer Kehle empor. Sobald die anderen sie losgelassen hatten, kroch sie mit vor Scham brennenden Wangen in die nächste Kabine und erbrach sich ins Klo.
»Das musst du immer so machen. Was wieder rauskommt, macht dich nicht noch fetter!«, rief Bernadette und das Lachen der Mädchen hallte übermächtig von den Klowänden wider.
»Ihh, diese Geräusche. Ich glaube, das Klo kotzt gerade.«
»Und mir kommt es auch gleich hoch. Lasst uns hier verschwinden!«
»Was ist denn hier los?«, rief die Stimme einer Lehrerin, diesmal die von Frau Holbein, ihrer Deutsch- und Kunstlehrerin.
»Ich glaube, der Lore ist schlecht geworden«, gab sich Saskia besorgt. Eine Schauspielerin hätte es nicht besser gekonnt.
»Ja, Frau Holbein, wir haben sie zur Toilette begleitet«, log Laura so glatt, als wäre es die Wahrheit. Den artigen Augenaufschlag konnte Lore dabei förmlich sehen. Sie spuckte immer noch ihre Innereien ins Klo.
»Das ist aber nett von euch«, lobte die Lehrerin die Mädchen. »Aber nun geht wenigstens noch den Rest der Pause hinaus. Ich kümmere mich schon um eure Freundin.«
Lore hörte die Tür gehen und auch, wie Saskia spöttisch flüsterte »Freundin…«
»Brauchst du Hilfe, Lore?«, fragte die Lehrerin nun, als sie allein waren. Diese wischte sich den Mund mit Klopapier ab und spuckte noch einmal, um den fiesen Geschmack loszuwerden. Es stank bestialisch in der kleinen Kabine.
»Nein, danke!«, nuschelte Lore. Ihr Hals war rau von ihrer Magensäure – und von ihren Tränen, die ihr über die Wangen strömten wie aus einer Quelle.
»Ich habe dich nicht verstanden. Kommst du bitte heraus?«
Das war Lore sehr unangenehm, würde die Lehrerin sie doch dann in ihrem verheulten und zerrauften Zustand sehen. Aber das war wohl nicht zu ändern.
Sie drückte die Spülung gleich zweimal, in der Hoffnung, auch den Gestank mit hinunterzuspülen. Es half aber nicht wirklich.
Langsam entriegelte sie die Kabine und schob die Toilettentür auf.
»Mein Gott, Kind, wie siehst du aus!«, rief Frau Holbein erschrocken. »Komm, wasch dich hier ein wenig. Und dann gehst du bitte nach Hause. Du brütest bestimmt etwas aus.«
Auch Lore erschrak, als sie jetzt ihr Spiegelbild betrachten konnte. Ihr ganzes Gesicht war rot und geschwollen, ihre Haare standen ab und waren verklebt. Ein bisschen von dem Brot klebte immer noch auf ihrer Wange und an ihrem Pullover. Sie wusch sich notdürftig ab und spülte sich den Mund aus.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte die Lehrerin noch einmal besorgt nach. »Oder soll ich dir eins von den Mädchen mitschicken, die sich eben so nett um dich gekümmert haben?«
Entsetzt wehrte Lore ab. »Nein, das ist nicht nötig!«
Mein Gott, dachte sie, und die Haare sträubten sich in ihrem Nacken. Saskia als Begleitung auf dem Heimweg! Ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, und hielt sich krampfhaft am Waschbecken fest, das bedenklich knackte.
»Bist du sicher?« Die Stimme der Lehrerin klang wie vom Boden einer Regentonne.
»Ja«, hörte sie sich selbst sagen. »Keine Sorge.«
»Gut, dann hol deine Schultasche und geh heim. Meine halbe Klasse liegt mit Magen-Darm im Bett. Nicht, dass du mir deine Klasse auch noch ansteckst!«
Fast hatten sie Lores Klassenzimmer erreicht, da fragte Frau Holbein noch einmal nach: »Und du bist dir sicher, dass sonst alles in Ordnung ist, Kind?«
Es klang so freundlich, so vertrauenerweckend, dass Lore für einen Augenblick versucht war, ihr zu schildern, was wirklich geschehen war. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf. Nein. Das hätte keinen Zweck. Es würde doch nur wieder an ihr ausgehen. Mit dem Nachteil, dass sich die Geschichte noch schneller verbreiten würde als ohnehin schon.
Wer weiß, vielleicht stellte Saskia, die beliebte Saskia, gerade irgendeine gemeine Version der Ereignisse ins Schülernetz. Das hatte sie alles schon einmal erlebt. Sie hatte mit dem Vertrauenslehrer gesprochen, Herrn Fischer, den sie in Mathe und Sachkunde hatte. Der wiederum hatte mit den betreffenden Mitschülern geredet, mit dem Ergebnis, dass sich alle gegen Lore verbündet hatten und sie ins Unrecht setzten. Alles war nur ein Missverständnis. Sie sollten in Zukunft mehr miteinander reden und Lore sollte ihre Fantasie im Zaum halten und besser hinhören. Hinterher hatten sich die anderen in der Klasse gegenseitig beglückwünscht, wie gut das doch gelaufen wäre. Und zu Lore hatten sie höhnisch bemerkt, es würde ihr eh keiner glauben. Genauso war es ja auch, das wusste sie. Es würde wieder so laufen. Selbst wenn ihr die Lehrer glaubten, dann würden die anderen es Lore trotzdem büßen lassen, für die Strafen, die sie dann bekämen. Es hatte eben keinen Zweck, einer Lehrerin ihre Sorgen anzuvertrauen. Auch wenn sie so nett war wie Frau Holbein. So schluckte Lore erneut ihre Tränen hinunter und antwortete: »Danke, es geht schon wieder.«
Frau Holbein schloss ihr den Raum auf, sie holte ihre Schultasche, hängte sie um und trottete hinaus. Das tat sie ausgerechnet in dem Moment, in dem es klingelte und ihr über dreihundert Schüler auf dem Weg in ihre Klassen entgegen strömten, sie anrempelten, als ein Verkehrshindernis, das sich in die falsche Richtung bewegte. Genau so war ihr ganzes Leben, dachte Lore. Sie bewegte sich nie in die richtige Richtung und dauernd nahmen die anderen an ihr Anstoß.
In einer Mischung aus Traurigkeit, Schock und Erleichterung machte sie sich auf den Heimweg. Erleichterung, denn jetzt konnte niemand in ihrer Klasse sie mehr quälen. Schock, denn soweit waren selbst Saskia und ihre Mistziegen noch nie gegangen. Lore fühlte sich hundeelend. Ihr Bein tat weh von dem Tritt. Sie roch immer noch die Kotze auf ihren Klamotten. Zu Hause würde sie gleich duschen und die Sachen in die Wäsche tun müssen. Es war so demütigend gewesen.
Und in der nächsten Zeit würde sie Mamas wunderbare Schinkenbrote nicht mehr genießen können. Immer würden sie sie an die Situation in der Toilette erinnern. Sie wühlte in ihrer Jackentasche und förderte einen Kaugummi zutage. Der eklige Geschmack in ihrem Mund und in ihrem Rachen sollte schnell weggehen.
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