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Coverabbildung Im Kreis des Drachen    Leseprobe "Im Kreis des Drachen"

von Frank Bergmann

Taschenbuch, 330 Seiten, ISBN: 978-3-96050-132-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Kapitel 1: Ein verregneter Sonntag
Kapitel 2: Freund oder Feind
Kapitel 3: Im Kreis des Drachen
Kapitel 4: Ordo draconis

 

Vorwort

Alles hat seinen Anfang, so auch dieses Buch. Es begann an einem kalten Januartag, lange bevor es wusste, dass es eines Tages ein Buch werden sollte. 
»Papa, erzählst du mir eine Geschichte?«, fragte Christa. 
Nun war Christa nicht etwa ein Kind, geschweige denn meine Tochter, sondern eine Bekannte, die ein paar Jahre älter war als ich.
Stefan, ein Mittvierziger, sah mich ebenso verwirrt an wie ich ihn und sein Blick schien mir zu sagen: »Dann lass mal hören.«
Während ich noch überlegte, wie ich aus dieser Nummer herauskommen sollte, begann ich mit »Es war einmal …« und startete ein Märchen. Wenn ich ins Stocken geriet oder nicht weiter wusste, sprang Stefan in die Bresche, und so entstand ein spaßiges Hin und Her.

Einige Monate später, es war ein verregneter Sonntag, begann ich, Teile dieser Geschichte, die wir uns erzählt hatten, auf- und weiterzuschreiben und es entstand die Kurzgeschichte »Von Prinzen und Prinzessinnen oder Ein verregneter Sonntag«, die ich in einem kleinen Buch veröffentlicht habe. Doch diese Begegnung mit Christa und Stefan hat mich nie losgelassen und es war mir eine Freude, sie immer weiterzuentwickeln, bis »Im Kreis des Drachen« geschrieben war. So hat mich eine Frage aus dem Nichts zum Schreiben gebracht:
»Papa, erzählst du mir eine Geschichte?«
»Sehr gerne. Immer wieder sehr gerne …«

Kapitel 1: Ein verregneter Sonntag

Die roten Zahlen auf dem Wecker konnten nicht lügen: fünf Uhr dreißig und es war Zeit aufzustehen. Mich irritierte nur, dass der Wecker heute keinen Ton von sich gab, doch dann dämmerte mir, dass Sonntag war und ich noch hätte weiterschlafen können. Aber ich war wach. Ich blinzelte durch das Halbdunkel des Schlafzimmers hinüber zu Steffi. Sie hatte die Bettdecke bis fast über ihren Kopf gezogen, sodass nur einige wenige ihrer blonden Locken sichtbar waren. Eine Weile lauschte ich ihrem ruhigen Atem, der mir verriet, dass sie noch tief und fest schlief, drehte mich dann schwerfällig und so leise wie möglich auf die andere Seite, um sie nicht zu wecken, und sah aus dem Fenster. Um diese Zeit sollte es eigentlich schon hell sein, doch dunkle Wolken versteckten die Sonne und der Regen trommelte mit aller Macht gegen das Schlafzimmerfenster. 
Na toll, dachte ich. Da muss ich nicht arbeiten und dann so ein Wetter. 
Ich hatte mich schon auf eine Fahrradtour oder einen ausgedehnten Waldspaziergang mit Steffi und Vera gefreut. Ich reckte und streckte mich und gähnte so leise wie möglich, dafür aber umso herzhafter und intensiver, sodass sich meine Gesichtsmuskulatur verkrampfte. 
Ein leises Geräusch aus Richtung Schlafzimmertür weckte meine Aufmerksamkeit und ich hob langsam und bedächtig meinen Kopf, um die Ursprünge dieses Geräusches zu erkunden. Stück für Stück bewegte sich die Türklinke der Schlafzimmertür wie von Geisterhand nach unten und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Ein brauner Haarschopf schob sich ganz langsam hindurch und zwei große Kinderaugen sahen mich hoffnungsvoll an. 
»Ich kann nicht mehr schlafen«, flüsterte Vera, unsere zehnjährige Tochter. »Schlumpi kann auch nicht mehr schlafen. Dürfen wir zu euch ins Bett kommen?« 
Sie hielt Schlumpi, ihren alten Stoffhund, der immer mit ihr im Bett schlief, demonstrativ hoch, um mir zu zeigen, wie wach auch er schon war. 
Ich nickte müde. »Aber leise, damit du Mama nicht weckst, ja?« 
Vera schlich um unser Bett herum, krabbelte zu mir und kuschelte sich fest an mich. Nach einer Weile kletterte sie über mich hinweg und legte sich zwischen Steffi und mich. Für einen kurzen Augenblick, aber aus Sicht eines Kindes eine gefühlte Ewigkeit, sah sie mich mit ihren kindlichen blauen Augen an. 
»Papa, erzählst du mir eine Geschichte?«, bettelte sie betont leise, um Steffi nicht zu wecken. »Bitte, bitte«, schob sie sofort hinterher, um mir keine Gelegenheit für ein »Nein, jetzt nicht« zu geben. 
Ach herrje! Eine Geschichte!, dachte ich. Das war eigentlich nicht meine Stärke und fiel eher in Steffis Aufgabenbereich. Hilfesuchend schielte ich zu ihr hinüber, aber der blonde Wuschelkopf rührte sich nicht und schnorchelte friedlich vor sich hin. Plötzlich fiel mir eine Geschichte ein, die mir mein Vater erzählt hatte, als ich Kind war. 
»Ich werde es versuchen«, flüsterte ich nach einer Weile. »Mal sehen, ob ich das noch zusammenbekomme.« 
Vera strahlte durch das Halbdunkel des frühen Morgens und ich konnte das erwartungsvolle Blitzen in ihren Augen erkennen. Sofort kuschelte sie sich wieder fest an mich und legte ihren Kopf auf meine Schulter. 
Oh mein Gott, dachte ich. Hoffentlich komme ich über den Einstieg hinaus. Vom Wuschelkopf war jedenfalls keine Rettung zu erwarten.
»Also«, begann ich betont langsam. »Es war einmal …«

Es war einmal ein großes Königreich mit Namen Ostland, das von einem König und einer Königin weise und mit Bedacht regiert wurde, und ihr Volk liebte sie dafür. Sie lebten in Frieden und Wohlstand und niemand wurde benachteiligt. Streitigkeiten schlichteten sie mit viel Weitsicht, sodass am Ende eines jeden Streits alle zufrieden nach Hause gingen. 

»Wie hießen denn der König und die Königin?«, fragte Vera und sah mich erwartungsfroh an. »Und warum hieß es Ostland?«
»Für gewöhnlich nennt man den König ›Mein König‹ und die Königin ›Meine Königin‹«, erklärte ich schlau. »Und es hieß Ostland, weil das Land im Osten lag.«
Ich hoffte, dass Vera sich mit diesen Erklärungen zufrie-dengeben würde, die nur dafür standen, dass mir die Na-men nicht einfielen.
»Also«, fuhr ich fort. »Der König und die Königin hatten eine Tochter. Sie war so alt wie du und sollte eines Tages, wenn ihre Zeit gekommen ist, den Thron besteigen und das Königreich regieren.« 
»Wie hieß die Prinzessin denn? Prinzessinnen haben immer einen Namen«, behauptete Vera.
»So? Zum Beispiel?«
»Prinzessin Lillifee, Schneewittchen, Schneeweißchen und Rosenrot, Dornröschen …«
»Kim«, platzte es aus mir heraus.
»Prinzessin Kim? Was ist das denn für ein komischer Name?«, fragte Vera. »So heißt doch keine Prinzessin.«
»Doch, mein Schatz. Diese hieß so.« Schmachtend dachte ich an Kim Wilde, eine Sängerin aus den 80er Jahren, deren lange blonde Mähne mich damals verzaubert hatte.
»So, Schatz, und jetzt unterbrich mich nicht immer.«

Das Königspaar wünschte sich noch einen Sohn, doch weitere Kinder waren ihnen nicht vergönnt. 

»Warum nicht?«, unterbrach mich Vera.
»Weil mir für einen Prinzen kein Name mehr einfällt. Und jetzt sei still, ja?«
Schmollend legte Vera wieder ihren Kopf auf meine Brust und ich hoffte, jetzt meiner Erzählung freien Lauf lassen zu können.

Die Königin konnte keine Kinder mehr bekommen und so ruhten alle Hoffnungen auf Kim. Der König und die Königin hatten große Angst, dass ihr etwas passieren könnte. Nicht nur, dass dann die Thronfolge nicht mehr gesichert wäre: Sie hätten ihr einziges Kind verloren, das sie sehr liebten. Also versuchten sie alles, um sie zu beschützen und sie von der Welt außerhalb des Palastes fernzuhalten. Sie durfte den Palast nicht verlassen und mit niemandem aus dem Volk sprechen. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie erführe, wie böse die Welt sein konnte. Ihr Zimmer befand sich in einem Turm, in dem …

»Das ist nicht Kim«, unterbrach mich Vera. »Das ist Rapunzel. Und das Märchen geht ganz anders.«
»Eben, Schatz. Dies ist nicht Rapunzel, sondern ein ganz anderes Märchen.«
Ich atmete tief durch und schielte hilfesuchend zu Steffi, die jedoch noch immer ruhig vor sich hin schnorchelte.

Kim verbrachte viel Zeit in ihrem Zimmer im Turm, die Zofe bemühte sich liebevoll um sie und spielte mit ihr. Der König und die Königin ließen es ihr an nichts fehlen, kauften ihr alle möglichen Spielsachen, verbrachten viel Zeit mit ihr, wann immer sie es einrichten konnten, spielten mit ihr, lasen aus Büchern vor und erzählten ihr Geschichten. Sie erhielt die besten Lehrer des Landes, damit sie alles lernte, was für sie wichtig war, um das Land später regieren zu können. Sie war schlau und wissbegierig und wollte immer mehr lernen. Im Laufe der Jahre hatte sie sich so viel Wissen angeeignet, dass ihr selbst die besten Lehrer nichts mehr beibringen konnten.
Nur von der Welt außerhalb des Palastes wusste sie nichts. Sie wusste nicht, wie Felder und Wälder rochen, wie sich die feuchte Nase einer Kuh anfühlte oder wie Schweine grunzend über ihren Trog Futter herfielen. Sie wusste nicht, wie Bauer und Bäuerin lebten und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatten. Sie wusste nicht, wie sich Waldboden und Steine in den Bergen unter ihren Füßen anfühlten und kannte nicht das Gefühl der frischen Bergluft auf ihrem Gesicht. Ich habe so viel Wissen, dachte sie häufig, doch vom Leben weiß ich nichts.
Je älter sie wurde und je weiter sie zu einer schönen jungen Frau heranwuchs, umso mehr brannte in ihr die Neugier, wuchs ihre Sehnsucht, die Welt außerhalb des Palastes kennenzulernen, und sie bedrängte den König und die Königin, ihr doch diese Welt zu zeigen. 
»Wie soll ich die Menschen später regieren, wenn ich nichts über sie weiß?«, fragte sie. »Wenn ich ihre Sorgen und Nöte nicht verstehe?«
Ja, sie wollte die Welt und die Menschen kennenlernen, die sie später regieren sollte. Doch der König und die Königin ließen es nicht zu.
»Wir lieben dich wirklich über alles, mein Kind«, sagten sie immer wieder, »aber wir haben Angst um dich. Nicht alle Menschen sind gut und es gibt Menschen, die uns nicht wohlgesonnen sind. Hier im Palast fehlt es dir an nichts und du bist sicher.« 
»Mir fehlt die Freiheit, die Luft zum Atmen. Ich habe nie mit anderen Kindern gespielt und ich will wissen, wie sie sind und wie sie leben. Ich will die Wälder, die Seen und die Berge unseres Reiches sehen«, bettelte sie. 
Doch in diesem Punkt war das Königspaar unerbittlich. Sie glaubten, dass es richtig wäre, Kim zu schützen, zu behüten und die Grausamkeiten der Welt von ihr fernzuhalten. Und so verbachte sie ihre gesamt Kindheit und ihre Jugend im Palast. 
Was nützt mir aller Wohlstand dieser Welt und all die Liebe meiner Eltern, wenn ich mich wie eine Gefangene fühle und meine Sehnsucht immer mehr wächst, die Welt in ihrer Vielfalt und Schönheit zu sehen?, dachte sie. Mag sie auch zum Teil böse und grausam sein, so muss sie aber doch schön sein, denn sonst könnte niemand glücklich sein. Und wo Böses ist, muss es auch viel Gutes geben.
In den zahlreichen Märchen, die ihr immer wieder erzählt und vorgelesen wurden, gab es immer einen Prinzen, der die Prinzessin rettete, und sie träumte davon, dass eines Tages jemand kommen und sie aus ihrem goldenen Käfig befreien würde. Sie spürte die Liebe ihrer Eltern, aber auch eine tiefe Sehnsucht, die sie nicht wirklich beschreiben konnte.

Ich machte eine Pause. 
»Wie geht es weiter?« fragte Vera und sah mich neugierig an. »Was passiert mit Kim?« 
Ich hatte keine Ahnung und dachte angestrengt nach. 
»Dazu kommen wir später«, hörte ich Steffi sagen und drehte mich zu ihr um. Dankbar sah ich in ihre tiefblauen Augen, die mich belustigt anschauten. Offensichtlich hatte sie mir und meiner Geschichte aufmerksam zugehört, ohne dass ich es bemerkt hatte. Vera fuhr herum, warf sich Steffi an die Brust und sah neugierig zu ihr hoch. Ich rückte weiter zu Steffi, sodass Vera uns beide spürte, und sah meinerseits Steffi neugierig an.
Jetzt kann die Geschichte Fahrt aufnehmen, dachte ich erleichtert, denn Steffi war eine richtig gute Märchenerzählerin.
»Es gab noch ein anderes großes Königreich«, begann sie. »Es hieß Westland und war sehr weit weg. Zwischen den beiden Königreichen war ein großes Meer. Das Meer war so groß, dass sich die Sonne und der Mond gegenüberstan-den.«
»Häh?« machte Vera. 
»Na ja«, fuhr Steffi fort, »wenn in Westland die Sonne schien, dann leuchtete in Ostland der Mond. Alle paar Stunden wechselten sich Sonne und Mond ab, sodass in jedem Königreich mal die Sonne und mal der Mond schien, aber eben niemals gleichzeitig. Das Meer war so groß, dass Sonne und Mond unmöglich beide Reiche gleichzeitig hell anstrahlen konnten. Auch Westland wurde von einem weisen Königspaar regiert und es fehlte dem Volk an nichts.« 
Steffi lächelte. »Das Königspaar hatte einen Prinzen, der ungefähr so alt war wie du«, fuhr sie fort und stupste Vera an die Nase, was sie mit einem leisen Kichern quittierte.
»Wie heißt der Prinz?«, krähte Vera. »Die Prinzessin heißt Kim.« 
»Ich weiß, mein Schatz. Ich kenne die Geschichte doch schon. Der Prinz hieß Hendrik.«

Der König und die Königin hatten sehr viel Arbeit und so viel mit dem Regieren ihres großen Königreiches zu tun, dass sie für den kleinen Prinzen keine Zeit hatten. Dabei wünschte er sich so sehr, dass sie sich mit ihm beschäftigen würden.
»Bitte spielt mit mir oder erzählt mir eine Geschichte«, bettelte Hendrik. 
»Das geht jetzt nicht«, sagten der König und die Königin immer wieder zu ihm. »Wir müssen dieses große Reich regieren und das geht vor. Eines Tages, wenn du groß bist und Westland selbst regierst, wirst du das verstehen und wissen, wo dein Platz ist und was du zu tun hast.« 
Sie liebten Hendrik, doch sie gingen so sehr in ihrer Ar-beit als König und Königin auf, dass sie alles andere um sich herum vergaßen. Er durfte zwar tun und lassen, was er wollte, den Palast verlassen, wann immer ihm danach war, doch in erster Linie vermisste er seine Eltern, die für ihn unendlich weit entfernt schienen. 
Sie besorgten die besten Lehrer, damit er alles lernte, was er lernen musste. Hendrik war schlau und lernte fleißig und schnell. Bald wusste er alles, was man ihm beibringen konnte. Wenn er nicht lernte, streunte er durch die Wälder, kannte bald jeden Baum, jeden See, jeden Berg und kannte jeden Menschen des Landes, denn er ging zu den Bauern und ihren Familien. Er sah, wie Mütter liebevoll ihre Kinder in die Arme nahmen und sie trösteten, wenn sie sich wehgetan hatten, doch ihn tröstete niemand.
Er wuchs zu einem jungen Mann heran, der davon träum-te, eines Tages eine Prinzessin zu lieben und Kinder zu ha-ben. Mit ihnen gemeinsam würde er als Familie durch die Ländereien des Reiches ziehen und dem Volk ganz nahe sein. 
Man kann doch nicht den ganzen Tag nur regieren, dachte er. Es muss doch auch mal Zeit für Prinzen und Prinzessinnen geben.

»Papa, was macht denn die Prinzessin?« fragte Vera. 
»Sie wartete darauf, dass ein schmucker Prinz zu ihr fliegt und sie aus dem goldenen Käfig befreit«, antwortete ich. 
Etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein, denn schließlich hatte ich keine Ahnung, was eine Prinzessin den ganzen Tag so trieb. 
Hoffentlich fällt Steffi etwas ein, dachte ich. 
»Dazu kommen wir noch«, sagte sie lächelnd. Manchmal war es so einfach, sich aus der Affäre zu ziehen.

Eines Tages strich Hendrik wieder durch die Wälder. Es war ein lauer Sommertag und er war schon den ganzen Tag unterwegs. Da er bereits den Wald kannte, achtete er nicht mehr auf die Bäume, die Tiere um ihn herum und die Seen, die die Landschaft zierten. Er war tief in Gedanken versunken, träumte davon, mit einer Prinzessin eine Familie zu gründen, sie zu lieben und mit ihr und seinen Kindern das Königreich zu regieren. So vieles wollte er anders machen als seine Eltern. Sie waren ihm fremd geworden und er hatte das Gefühl, dass der kleine Prinz von ihnen unbemerkt zu einem jungen Mann herangewachsen war. 
Er schlenderte gedankenverloren durch die Wälder und über Lichtungen und bemerkte nicht, dass er sich in einem Gebiet befand, in dem er noch nie gewesen war, als plötzlich ein großer Wolf vor ihm stand. Hendrik hatte schon häufig Wolfsrudel beobachtet, allerdings aus sicherer Entfernung. Er kannte ihre Verhaltensweisen, doch dieser war anders als die anderen, größer und älter – und alleine. Sie standen sich gegenüber und musterten sich. Hendrik sah in gütige, gelbe Augen und er wusste, dass er keine Angst haben musste. Er hatte vielmehr das Gefühl, diesen Wolf schon lange zu kennen.
»Wer bist du?«, fragte er. 
»Ich bin dein Wächter, der tief in deinem Inneren wohnt.«
»Wie kannst du in meinem Inneren wohnen, wenn ich dich doch vor mir sehe?«
»Weil du träumst.«
»Ich träume?«, fragte Hendrik. »Schlafe ich denn?«
»Oh ja, sogar tief und fest.«
»Aber … Aber du bist so wirklich, so echt.«
Der Wolf senkte seinen Kopf und sah ihn schmunzelnd an. »Deine Träume sind wirklich und sie sind echt. So, wie die Trommeln, die du hörst.« 
»Trommeln?«
»Höre genau hin.«
Hendrik lauschte und hörte tatsächlich aus der Ferne ein 
Bummbumm … bummbumm.
»Ja. Ich höre sie«, sagte er. »Was sind das für Trommeln?«
»Die Trommeln sind dein Herzschlag«, antwortete der Wolf. »Wenn du sie hörst, werden sie dir deinen Weg weisen.«
»Was muss ich tun?«
»Nichts. Nur auf dein Herz hören. Und jetzt schließe deine Augen und lausche deinem Herzen, was es dir zu sa-gen hat. Habe keine Angst. Dir kann nichts passieren.«
Hendrik schloss seine Augen und hörte sein Herzen schlagen.
Bummbumm … bummbumm
Als er die Augen wieder öffnete, war der Wolf ver-schwunden, doch er spürte noch immer seine Nähe. Er sah sich um, betrachtete die Bäume, schaute zu ihnen hoch und beobachtete ihre Wipfel, die sich sanft im Wind bewegten. An einer großen, starken Eiche blieb sein Blick haften und er betrachtete den mächtigen Stamm. Die Wurzel war gespalten. Neugierig ging er darauf zu, spähte in den Spalt des Baumes und ging schließlich hinein. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und ging tiefer und tiefer durch Gänge, bis er in der Ferne ein Licht erblickte. Er ging darauf zu, erst langsam, dann schneller, und schließlich lief er, angetrieben von einer inneren Macht, bis er das Ende des Baumes und eine Lichtung erreichte. Er blieb stehen und blinzelte in die Sonne, hörte das Schlagen seines Herzens:
Bummbumm … bummbumm
»Lauf weiter«, hörte er die Stimme des Wolfes und wie in Trance und getrieben von einem inneren Zwang lief er weiter, rannte über die Lichtung in einen Wald hinein, lief vorbei an Bäumen, rutschte einen Abhang hinunter, durch einen Bach, eine Anhöhe hinauf, bis er eine weitere Lichtung erreichte. Er blickte nach rechts und nach links, dann wieder nach vorne über die Lichtung.
Ich bin noch nicht am Ziel, dachte er und lief weiter, über Wiesen und Felder, sprang über umgestürzte Bäume und einen weiteren kleinen Bach. Aber wo laufe ich hin und was suche ich überhaupt?
Plötzlich trat der Wolf aus einem Gebüsch hervor. Hendrik blieb stehen und sah ihn außer Atem an.
»Wer bist du?«, fragte er erneut.
»Das sagte ich dir doch schon: Ich bin dein Wächter, aber ich bin nicht der, den du suchst.«
»Wen suche ich denn?«, fragte Hendrik. »Oder was?«
»Bleib auf deinem Weg und sei offen für alles, das dir begegnet.«
Hendrik schloss die Augen und sog die Luft tief in die Lungen. »Sag mir doch …« Hendrik verstummte und sah sich um. Der Wolf war verschwunden.
Bummbumm … bummbumm
Hendrik lief weiter, angetrieben von einer inneren Kraft, die er nicht verstand. Er lief über eine Wiese auf eine Steilküste zu. In der Ferne konnte er das Meer sehen und am Himmel die gelben Augen seines Wächters. In diesem Augenblick wusste er, dass ihm nichts passieren konnte. 
Egal, was auch passiert, dachte er. Dies ist mein Weg.
Bummbumm … bummbumm
Er sammelte noch einmal seine Kräfte, lief auf die Steilküste zu, sah die Augen seines Wächters, hörte seine Stimme: »Vertraue deinem Herzen!« und – sprang die Steilküste hinunter …
Bummbumm … bummbumm
Er breitete die Arme aus und fiel wie ein Fallschirmspringer in die Tiefe. Weit unter sich sah er die Klippen und das Meer, das mit voller Wucht gegen die Felsen prallte und sich in weiße Gischt verwandelte. Für einen kurzen Moment nahm er einen großen Schatten unter sich wahr. Es war ein riesiger Adler. Hendrik fiel auf den Rücken des Vogels und setzte sich rittlings auf seinen Hals. Sie glitten durch die Wolken, deren Feuchtigkeit er spürte, schossen in die Tiefe und flogen über das Meer, dann in einem großen Bogen auf einen Felsen zu, der sich steil aus dem Wasser erhob. Hendrik konnte den Horst des Adlers sehen. Schließlich legte das mächtige Tier die Flügel in den Wind und sie landeten in seinem Nest. Hendrik glitt vom Hals des Adlers und setzte sich ihm gegenüber. 
Groß und stolz wirkte der Vogel auf ihn und er fühlte sich klein, so unendlich klein. Und doch begegneten sie sich als Eins. 
Hendrik betrachtete den Adler. Der Adler betrachtete Hendrik.
Wer bist du?, wollte Hendrik ihn fragen, doch er schwieg.
Sie sahen sich einfach nur an. Hendrik spürte, dass dieses Wesen alles über ihn wusste, seine Träume, Wünsche, Sehnsüchte kannte und all das, was er selbst noch nicht über sich wusste. Auch ohne Worte wusste Hendrik, wer der Adler war und was er ihm zu sagen hatte. Dieser mächtige Vogel war der, der ihm Weitsicht, Mut und Kraft geben würde, um seinen Weg zu gehen und seiner Bestimmung zu folgen. Hendrik spürte in diesem Moment die ganze Kraft seines Herzens und ein großes Vertrauen in sich selbst. Schließlich vernahm er erneut das Schlagen seines Herzens.   
Bummbumm … bummbumm
Er spürte das Ende seiner Reise, erhob sich und sah den Adler noch einmal an, wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen … Kein Danke … Kein Nichts ... Und doch spürte er eine tiefe Dankbarkeit, als er seine Hand auf den Hals des Tieres legte und schließlich auf dessen Rücken kletterte. Der Adler breitete seine Flügel aus und stieß sich mit einem lauten und schrillen Schrei von der Felskante ab. Ohne einen Flügelschlag glitten sie noch einmal durch die Wolken, über das Meer und die tosende Brandung auf die Steilküste zu. Dort angekommen, glitt er von seinem Hals und sah ihn noch einmal an.
Du musst jetzt gehen, schien er Hendrik zu sagen. 
Wohin muss ich gehen?, dachte Hendrik.
Dort, wo die Veränderung ist.
Aber wo ist das?
Überall, wo du sie willst und zulässt. Du weißt jetzt, dass ich in dir bin. Wenn du an dir zweifelst, musst du mich nur rufen und dich mit mir verbinden.
Hendrik lächelte, drehte sich um und lief den gleichen Weg zurück, durch den Spalt des Baumes in die Dunkelheit hinein, bis er plötzlich wieder an der Stelle vor dem Wolf stand, an der er ihm das erste Mal begegnet war.
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragte der Wolf.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Hendrik. »Und ich bin verwirrt.«
»Auch wenn du es jetzt noch nicht weißt, wirst du deinen Weg finden. Du musst mit den Augen des Adlers sehen und deiner Kraft vertrauen, denn du alleine hast die Verantwortung für dein Leben und all dein Handeln. Nun lege dich unter den Baum, ruhe ein wenig aus und öffne allmählich deine Augen.«

Hendrik legte sich unter den Baum, öffnete langsam die Augen und sah sich um. Die Vögel um ihn herum zwitscherten und kündigten den neuen Tag an. Er lächelte still in sich hinein, denn er spürte, dass er bereit war, neue Wege zu gehen, neue Welten zu entdecken und einer Bestimmung zu folgen, die er noch nicht kannte.
Danke für diese Reise, dachte er. Ich kenne meinen Wächter und bin mit dem Adler geflogen. Ich weiß jetzt, dass ich bereit bin.

»Papa, du schnarchst.«
Erschreckt riss ich die Augen auf und sah in das empörte Gesicht meiner Tochter.
»Nein, ich habe nicht geschlafen. Hätte ich geschnarcht, hätte ich das doch hören müssen. Ich habe euch genau zugehört.«
»So?«, fragte Steffi. »Was habe ich denn erzählt?«
»Na ja«, sagte ich und rieb mir die Augen. »Hendrik ist einem Wolf begegnet, mit einem Adler geflogen und …«
Steffis schallendes Gelächter ließ mich zusammenzucken.
»Was ist?«
»Kein Wort hat Mama von einem Wolf und einem Adler erzählt«, rief Vera. »Du bist eingeschlafen, Papa, hast alles nur geträumt.«
»Echt jetzt? Oh mein Gott. Das tut mir leid.«
»Das muss es nicht, Schatz«, sagte Steffi und strich mir über das Gesicht. »Dann erzähle ich es eben noch einmal.«
»Nee, Mama«, warf Vera ein und wandte sich zu mir. »Du hast doch von Hendrik, einem Wolf und einem Adler geträumt. Was war das denn?«
»Ach, das hat doch gar nichts mit der Geschichte zu tun.«
»Vielleicht ja doch«, meinte Steffi. »Erzähl doch mal, was du da so geträumt hast. Vielleicht habe ich da ja etwas übersehen.«
»Das war mein Traum und der geht niemanden etwas an.«
»Moment mal«, sagte Steffi. »Da träumst du die Geschichte und sagst uns, dass es uns nichts angeht? Das ist nicht nur deine Geschichte, sondern auch unsere. Also bitte.«
Ich kannte diesen Blick aus ihren tiefblauen und entwaffnenden Augen, der keinen Widerspruch duldete, und so beugte ich mich meinem Schicksal und erzählte ihnen von meinem Traum.
Als ich geendet hatte, sah mich Vera aus ihren großen kindlichen Augen und mit offenem Mund an. »Ich dachte immer, Adler und Wölfe wären gefährliche Tiere.«
»Nein, sind sie nicht«, sagte Steffi. »Und wenn du ihnen genau zuhörst, kannst du hören, was sie sagen.« Auch sie lächelte. »Da habe ich wirklich etwas übersehen«, sagte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und Vera grinste breit. 
»Dann erzähl du jetzt mal, was ich verpasst habe, während ich mit dem Adler unterwegs war«, sagte ich. »Wir wollen doch alle auf dem gleichen Stand sein, oder?«
»Klar!«, rief Vera.
»Gut«, sagte Steffi. »Aber flieg du nicht wieder durch die Gegend, ja?«
»Versprochen«, grinste ich. »Dann lass mal hören.«

An einem lauen Sommertag schlenderte Hendrik tief in Gedanken versunken durch die Wälder. Er war schon den ganzen Tag unterwegs und bemerkte nicht, dass er sich in einer Gegend befand, in der er noch nie gewesen war.

»Bis zu dem Gebiet, wo er noch nie war, habe ich noch alles mitbekommen, glaube ich«, warf ich ein.
»Na gut«, schmunzelte Steffi. »Dann pass mal auf …«

Er dachte noch lange über seinen Traum, seiner Begegnung mit dem Wolf und dem Flug des Adlers nach.

»Oh«, sagte ich und zog die Augenbrauen hoch. »Jetzt wird mein Traum also schon in die Geschichte integriert.«
»Pscht, Papa«, machte Vera. »Sei still und hör zu.«
Ihr vorwurfsvoller Blick ließ mir gar keine andere Wahl und so lauschte ich den Worten meiner Frau, die schmunzelnd fortfuhr.

 

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Textprobe: Frank Bergmann

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