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    Leseprobe "Die Schakale der Inquisition"

von Mirjam Wyser

Taschenbuch, 205 Seiten, ISBN: 978-3-96050-127-5

Inhaltsverzeichnis

Die Liebe
Eine Liebe im Lichte
Fahrt in die Spiegelwelt
Der Unfall
Wiedergeburt aus dem Abgrund
Das Verhör
Das Schafott
Henker Wendel
Klemens
Der geheimnisvolle Mönch
Vom Henker zum Prediger
Ende der Pilgerschaft
Der Inquisitor
Zurück aus der Rückschau
Das Licht der anderen Welt
Eine unendliche Geschichte
Heute, Todeserlebnis der Gesellschaft – Ein Nachwort

1. Die Liebe

Diese Geschichte führt weit zurück, in die Zeit der Inquisition. Wieso konnte das Christentum so intolerant und grausam werden? Aus der Jesus-Botschaft der Nächstenliebe wurde ein rücksichtsloser Fanatismus? Harmonie, Achtung, Toleranz, Friedfertigkeit, Nachsicht, Verständnis, Duldsamkeit, Großherzlichkeit wären Beweise für die Echtheit einer Religion. Wenn aber eine Religion Eitelkeit, Hass, Gewalt, Vernichtung und Uneinigkeit hervorbringt, steht sie unter dem Einfluss des Bösen. Meiden sollte man Menschen, die eine Religion derart missbrauchen.

Der Ursprung des Universums, der einen Religion, ist die Liebe. Der Tempel Gottes ist der Mensch. Der Körper des Menschen steht vor einer Verwandlung. Das Wesentliche ist im Herzen des Menschen zu finden. Die Kirche ist nicht das Haus des Herrn. So großartig die Bauten der Gotteshäuser auch sein mögen, so sind sie nicht vom Reich dieser Welt, wovon das Christentum spricht. Das Christentum ist keine neue Religion, sondern eine neue Form für höhere Geisterkenntnis und für ein höheres Bewusstsein. Der Körper des Menschen ist der Tempel. Ist er keine Räuberhöhle, fließt seine ganze Kraft in den einzelnen Menschen ein und erleuchtet ihn. Dieses Licht gehört aber nicht nur dem einzelnen Menschen. Es strahlt nur, wenn sich die Menschen zusammenschließen und Brücken bauen, damit eine Zukunftswelt der Liebe gebaut werden kann.

Vieles – wie die universelle Liebe, der Respekt und die Wertschätzung dem Anderen gegenüber – wird von zahlreichen Fanatikern immer noch mit Nagelschuhen getreten. So heftig, dass man glauben könnte, das Finstere bekäme wieder Oberhand. Heute, im 21. Jahrhundert, ist das Böse in dem Menschen wieder so präsent wie ein übles Krebsgeschwür, das sich haltlos verbreitet. Das Böse offenbart sein Gesicht. Doch nur die universelle Liebe ist der Schlüssel zum Universum.

Wenn Gedanken voller Mitgefühl und Liebe im Einklang mit dem Kosmos stehen, können sie die Engel, die Lichtwesen unterstützen, alles wieder in Liebe zu ordnen, was Glückseligkeit, Frieden, Harmonie und Freude bedeutet. Die Liebe offenbart sich in der wunderbaren Sprache kosmischer Harmonien, in den unendlichen Abfolgen von Leben. Sie umarmt das Leben, bringt es hervor und lässt es erblühen. Von allen menschlichen Gefühlen ist die wahre Liebe ohne Zweifel das Allerschönste.

Manche Menschen fürchten die Liebe, denn sie ist alles oder nichts und sie steht auch für Kompromisse. Im Gegensatz dazu ist aber ihre Intensität so groß, dass die ganze Welt nach diesem wertvollsten aller Schätze sucht. In der Realität hängt es von jedem Einzelnen ab, die wahre Magie der Liebe zu finden. Die Liebe ermöglicht den Menschen, sich frei und glücklich zu fühlen. Sie dringt in die Seelen der Menschen ein und erlaubt, eine großzügigere Dimension des Lebens zu erleben. Dank der Liebe überlebt die Menschheit, dank der Liebe heilen kranke Menschen schneller und lernen die Seite des Glücks kennen. Aus diesem Grund muss die Liebe gepflegt werden, damit die Menschen in Harmonie mit sich selbst und mit den anderen leben können. Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir Abschied vom Leben nehmen. Die mitfühlende Liebe ist die größte göttliche Macht. Die unbesiegbare Quelle ist im heiligen Herzzentrum. Mitgefühl ist die alles verbindende Kraft, die vereint.

Die Handlungen, die man in einem Leben verrichtet, bestimmen das Karma im nächsten Leben. Es ist auch kein Zufall, in welche Volksseele man hineingeboren wird. Als ewige Seele wird man nach einer langen kosmischen Reise wieder ins Erdenfeld eintreten und ein neues Abenteuer beginnen, um ein vollkommener Mensch zu werden. Jeder Mensch bringt seinen karmischen Rucksack aus früheren Leben mit, damit muss er sich nun auseinandersetzen. Wer beim Wiederkommen – als karmischer Folge eines Irrweges – kein Licht in seiner Seele trägt, der kann sich im neuen Erdenleben in den Schatten verlaufen. Der Mensch ist ein Übergangswesen, von einer Inkarnation zur anderen. Das Ziel ist die Weiterentwicklung des persönlichen ICHs. Das Vergessen gehört zum Abenteuer Leben dazu, damit sich der Mensch frei entwickeln kann. Die äußere Welt ist nicht Gott, sondern nur ein Wesen, in welchem sich Gott spiegelt und offenbart. Es gibt nur einen Gott und dieser Gott ist allgegenwärtig. Es gibt nur eine Religion, die Religion der Liebe. Es gibt nur eine Sprache, die Sprache des Herzens.

 Wir müssen Gott nicht ständig durch spirituelle Disziplin vor unserem geistigen Auge sichtbar werden lassen. Wenn zum Beispiel Wasser in einer Tasse nach nichts schmeckt, obwohl Zucker darin ist, dann ist nicht richtig umgerührt worden. Gott durchdringt diese Welt und wenn durch richtiges »Umrühren« das Göttliche in jedem Tropfen, in jedem Atom angeregt wird, dann kann die Welt süß werden wie der Zucker in der Tasse.

Auf dem Weg zu diesem Ort erfolgt auch eine große gesellschaftliche Wandlung. Die Veränderung der Geschlechterrolle, die Gleichberechtigung, zu achten, zu lieben, zu leben, zu sein wird natürlich das ganze Leben beeinflussen. Liebe ist ein gegenseitiges Geschenk, man kann sie nicht kaufen und nicht erzwingen. Die meisten Menschen fordern Liebe, weil sie glauben, sie stehe ihnen zu.

Der Geschlechtsakt ohne Liebe ist nur Triebbefriedigung. Sie sehen nicht, dass wirkliche Liebe uns von allem lostrennt, was nicht Liebe ist. Der Geschlechtsakt gilt als heiligste Kraft überhaupt. Deshalb sollte man damit sorgsam umgehen. Bewusste Sexualität wandelt Energien um und ist der Schlüssel zu Freude und Dankbarkeit.

Doch in vielen Religionen bekommt die Liebe zwischen Mann und Frau keinen Stellenwert. Sexualität wird wohl oder übel geduldet wegen der Fortpflanzung. Diese Religionen sind bestrebt, das Sexuelle zwischen Mann und Frau als etwas Sündiges, Teuflisches darzustellen. Fragt man sie: »Wer hat die Sünde erschaffen?«, antworten sie: »Der Teufel!«

Aber wer hat den Teufel erschaffen? Die Menschen selbst. Demnach ist der Teufel eine Schöpfung Gottes. Wenn irgendetwas in der Schöpfung unheilig ist, wo soll es denn herkommen? Das Leben macht nur Sinn, wenn es dazu da ist, dass Menschen Erfahrungen machen und lernen. Erfahrungen können nur gemacht werden, wenn es zwei Gegenpole gibt. Bei Gott gibt es nur Liebe, dort ist das Sein. Wir inkarnieren also, weil hier der Gegenspieler Gehirn dazukommt und wir nun zwei Seiten haben, zwischen denen wir uns entscheiden können. Somit machen wir Erfahrungen.

Wer die sexuelle Kraft, wenn sie mit Liebe durchtränkt ist, als Feind ansieht, lebt in einer steinernen Gemütsverfassung und wird in seiner Seele selbst zu Stein. Wenn die sexuelle Kraft tot ist, dann gibt es auch keine Energien mehr, die zur Liebe heranwachsen können. Er geht an dem kosmischen Festival des Eins-Sein, der Zärtlichkeit, der Glückseligkeit vorbei. In der liebevollen Begegnung liegt der Keim für das neue Leben. Soll er wachsen und erfreulich gedeihen, so braucht er fruchtbaren Boden.

Solche geistlichen Menschenführer, welche nach ihrem Gutdünken die Menschheit knechten wollen, sind einfach verwirrt und befinden sich selber in einem völligen Durcheinander. Sie glauben sogar, das Recht zu haben, anderen Menschen die Samen aus ihrem verwirrten Geist aufzwingen zu dürfen. Doch ein verfaulter Samen kann nicht sprießen, nicht blühen, keine Frucht hervorbringen. Er ist tot.

Diese Geistlichen gehen rückwärts in der Entwicklung. Sie blicken nur noch auf ein Ding, das außerhalb der göttlichen Entwicklung steht. Sie haben es nicht mit Wissen, sondern mit Nicht-Wissen zu tun. Sie begreifen nichts mehr durch den Geist. Sie schauen, ohne zu begreifen, auf ihr eigenes, kümmerliches Leben. Sie sind auf der untersten Stufe der geistigen Entwicklung angelangt. Sie nehmen das Böse, das Unzweckmäßige als selbstverständlich hin. Das Licht kann die Finsternis in ihren Seelen nicht mehr durchdringen.

Die meisten Menschen haben keinen Zugang zu der anderen Welt. Sie leben in einer Zeit des Kampfes, wo das Göttliche Tag für Tag beschmutzt und zerstört wird. Die blinde Gewalt. Wo sich die Menschen die Augen ausgerissen haben, mit denen man höhere Welten erkennen könnte. Sie möchten das Geheimnis des Übersinnlichen kennenlernen. Aber wie werden sie es finden, wenn sie nicht in ihren Herzen suchen? Sie binden ihr Leben in eine Einmaligkeit zwischen Geburt und leiblichem Tod ein. Doch es gibt einen viel größeren Zyklus von Entstehen und Vergehen in einem endlosen Umwandlungsprozess. In einer Art Traumwelt können sich Bilderwelten aufbauen, die das Bewusstsein erreichen und damit wirklich existieren.

Und so beginnt nun eine Geschichte von ehrlichen Menschen, die in den Sog des absolut Bösen geraten, von den verwirrten Seelen der Inquisition.

2. Die Frau im weißen Kleid

Diese Geschichte liegt weit zurück, sehr weit. Sie hat in einem früheren Leben stattgefunden. Doch sie geht weiter im heutigen Leben, im Hier und Jetzt.

Bei einem Anlass begegnen sich die Blicke von Vinzenz und Marcy intensiv. Die Augenpaare sind voneinander wie hypnotisiert. Ihre Blicke sprechen Worte. Er sieht ihr direkt in die Augen und Marcy hält diesem Blick stand. Vinzenz schaut sie fassungslos an, dabei hämmert sein Herz bis zum Hals. Wer auch immer diese Frau ist, er muss sie kennenlernen.

Eine knisternde Spannung geht von seinem muskulösen Körper aus. Seine Augen nehmen einen seltsamen Glanz an. Sein Blick wirkt lustvoll. Etwas verlegen fährt Marcy mit den Fingern durch ihr dunkles Haar. Ein Kribbeln breitet sich von ihrem Magen aus, bis in die Zehen hinunter. Sie sind sich auf Anhieb so vertraut, als würden sich ihre Seelen schon seit ewiger Zeit kennen.

Er geht auf sie zu, schluckt, sucht nach Worten.

»Sie sind die aufregendste Frau, die mir jemals begegnet ist! Ich bin Vinzenz.«

Er fühlt sich etwas plump, seine Anmache ist nicht gerade ein Meisterstück, aber ehrlich. Sie verdreht etwas die Augen und lächelt. Er streckt ihr die Hand entgegen. Zögernd lässt sie ihre Hand in seine gleiten.

»Ich bin Marcy!«

Er hält ihre Hand, den Blick fest auf sie gerichtet. Ihre Augen funkeln ihn an. Die Magie der Liebe spricht und in ihren Auren vernimmt man ein leises Antworten. Tief im Inneren spüren sie eine vertraute Verbindung.

Ein Feuer ist entfacht. Es ist, als würden bei jedem Wort, das gewechselt wird, ein paar Tropfen Brennspiritus ins Feuer der Liebe gegossen werden. Die Berührung seiner Hände lässt sie erschaudern. Sie kommen sich näher, verschlingen sich gegenseitig mit ihren Blicken. Sie genießt den Augenblick, als Vinzenz sie küsst.

Es ist schon spät in der Nacht, als sie das Event verlassen. Der Himmel ist sternenklar und die Sterne strahlen ihnen hell entgegen. Innerlich brennt das Feuer der Liebe lichterloh. Die Wärme der Liebe breitet sich aus. Vinzenz nimmt Marcy nochmals in den Arm und küsst sie mit Leidenschaft. Er ist das erste Mal im Leben total verliebt. In Beziehungen ist er bisher entweder sprunghaft oder verkorkst gewesen und hat einfach keine Frau wirklich lieben können. Das Problem hat er sogar mit einem Psychologen besprochen. Er baue um sich einen Schutzwall auf, um nicht verletzt zu werden, hat dieser gemeint. Doch auch aus dieser Erkenntnis ist er nicht klüger geworden.

Er sieht Marcy wieder an, streicht ihr mit zitternden Händen eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Was ist heute mit uns passiert? Schöne Marcy, wer bist du wirklich?«

Marcy zuckt mit den Schultern und antwortet: »Die Götter werden es wissen!«

Er schließt die Augen und nickt, bevor er Marcy wieder ansieht.

»Dann werden wir sie fragen.«

Er bittet sie, ihm ihre Handynummer zu geben, und verspricht, sie bald anzurufen. Sie zögert keine Sekunde und schreibt sie ihm auf. Sie können kaum voneinander lassen, bevor beide in ihr Auto steigen und ihre Wege sich wieder trennen.

Die Gedanken der Liebe schweben im All. Die glutvolle Fantasie spielt und spiegelt sich im Sternbild. Beide fangen sie auf und verpacken sie als kostbaren Schatz in ihren Herzen. Aber was wird morgen oder übermorgen sein?

Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Vinzenz ruft Marcy gleich am nächsten Tag an und sie verabreden sich am nächsten Samstag zum Essen. Von da an treffen sie sich praktisch jedes Wochenende. Ihre kurzen Zusammenkünfte, die Küsse, die schwindlig machen, sind unvergesslich. Etwas Unbeschreibliches, Geheimnisvolles spielt zwischen den Zeilen des Lebens, das nur ihnen beiden gehört. Es entsteht eine wunderbare Liebe zwischen den Beiden. Wenn sie zusammen sind, tauchen sie ab ins Nichts, doch eigentlich gibt es das Nichts gar nicht. Das Nichts ist eine Ur-Idee und beinhaltet den ganzen Kosmos, das Geschriebene, das Erlebte, irgendwann und irgendwo. Diese Ur-Idee braucht aber immer wieder neue Impulse, damit sie sich weiterentwickeln kann, und Marcy und Vinzenz sind ein Teil davon.

Es ist frühmorgens, draußen ist es noch dunkle Nacht. Der Regen, der leise an die Scheiben klopft, lässt Marcy nicht mehr schlafen. Es ist kein lautes Geräusch, nur ein Rauschen, und der Vorhang weht sanft im Wind. Sie hat kaum ein Auge zugemacht und beschließt aufzustehen. Sie zündet ein Räucherstäbchen an und setzt sich in die Yoga-Stellung auf den Fußboden, verschränkt die Beine und schließt die Augen. Schnell verbreitet sich der Duft von Sandelholz im ganzen Raum. Sie sammelt sich. Praktisch die ganze Nacht hat sie an den gestrigen Besuch in einem alten Kloster mit der dazugehörigen Burg denken müssen. Etwas Unfassbares ist dort geschehen und wühlt sie immer noch auf. Die Bilder von dem alten Kerker verfolgen sie wie ein böser Geist.

Sie und Vinzenz standen beim Besuch Hand in Hand in einem alten Kerker. Mit ausdruckloser Miene starrte Marcy die Säule mit den Ringen an, an denen vor langer Zeit die Gefangenen angekettet worden waren. Der Fremdenführer erzählte mit ausschmückenden Worten, wie brutal man die Gefangenen dort einmal gehalten hatte.

Plötzlich konnte sie nicht mehr zuhören und fühlte sich ganz miserabel. Sie versuchte das unangenehme Gefühl zu ignorieren. Doch das unsichtbare Grauen legte sich wie ein Mantel um sie herum. Eine unglaubliche Kälte kroch in ihre Glieder und ihr wurde ganz übel. Der Schweiß lief ihr kalt den Rücken hinunter. Sie wollte schreien, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie wollte davonlaufen, doch ihre Füße blieben wie angewurzelt stehen. Ihre Seelenqualen spiegelten sich sogar in ihren Gesichtszügen.

Plötzlich war die Angst verflogen. Sie hatte das Gefühl, ein Lichtwesen berühre sie.

Mit klangloser Stimme sagte sie zum Fremdenführer: »Ich muss hier raus, das ist kein guter Ort. Da klebt noch immer Blut aus vergangenen Zeiten an den alten Gemäuern. Und es gibt gefangene Seelen.«

Der Fremdenführer schaute sie nur fassungslos an und meinte, sie habe eine zu lebhafte Fantasie. Sie wurde wütend, konnte seine spöttischen Äußerungen nicht fassen. Als sie mit Vinzenz durch einen dunklen Gang lief und dann die abgewetzte Treppe hochstieg, hörte sie, wie sich die ganze Gruppe über sie lustig machte. Gefühle der Ohnmacht stiegen in ihr hoch und machten sich in ihrer Seele breit. Auf der obersten Treppenstufe angekommen, musste sie sich schließlich hinsetzen. Etwas Unheimliches schnitt ihr den Atem ab. Vinzenz setzte sich zu ihr und hielt wortlos ihre Hand.

Bald hörte man die dumpfen, höhlenden Schritte der Gruppe näher kommen. Die Besichtigungstour ging weiter, eine hölzerne Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Marcy und Vinzenz schlossen sich ihnen wieder an. Sie durchquerten den Waffensaal, gingen durch pompöse Gemächer und kamen dann zum Gerichtssaal. Marcy blieb wie versteinert stehen. Schweißtropfen sammelten sich auf ihrer Stirn, ihr Herz raste und ihr wurde schwindelig. Mit zittrigen Händen hielt sie sich an einer geschnitzten Truhe fest, welche ihr für einen kurzen Augenblick Halt gab.

Da schoss ihr auch schon der Saalwärter wie eine gestochene Wespe entgegen und schimpfte auf sie ein: »Können Sie nicht lesen? Berühren verboten! Haben Sie denn gar keinen Respekt vor dem Altertum?«

Schnell ließ sie die Truhe wieder los und Vinzenz zog sie an sich, hielt sie fest. Wie in Trance ließ sie sich durch verwinkelte Gänge zur Folterkammer weiterschieben. Die Folterwerkzeuge erweckten das Interesse der Gruppe. Der redegewandte Führer wusste einiges Finstere darüber zu berichten und erweckte damit sensationslüsternes Schaudern.

Marcy fühlte, wie ihre Glieder immer schwerer wurden. In ihrem Kopf dröhnte es. Unschöne Bilder tanzten vor ihren Augen, verschwammen, verzerrten sich, Konturen zogen sich wie ein Zerrbild auseinander.

»In diesen Mauern ist Schreckliches geschehen. Werden wir hier überhaupt wieder ohne seelischen Schaden herauskommen?«, meinte sie sarkastisch.

Der Führer schaute sie belustigt an, machte wieder ein paar Sprüche und das Gelächter der Gruppe war ihm sicher.

Ganz plötzlich hörte man von irgendwoher ein eigenartiges, dumpfes Rumpeln. Dann ein Knallen, als schlüge eine Türe zu. Die Gruppe wurde ganz still, etwas Unheimliches lag in der Luft.

»Hier spukt es manchmal. Dann hört man das Wimmern von gefangenen Seelen in den alten Gemäuern«, wusste der Führer zu erzählen.

Keiner der Besucher lachte mehr. Dann wieder dieses eigenartige kratzende Geräusch. Erschrocken und verwirrt schauten die Besucher umher, als würde sie jeden Moment ein Poltergeist erschrecken. Angstvoll scharten sich die Besucher um den Burgführer. Dieser konnte die Geräusche auch nicht einordnen. Doch er schwieg. Das Unsichtbare ließ die Nerven aller vibrieren. Ein muffiger, widerlicher Geruch breitete sich in den alten Mauern aus.

Heute war irgendwie alles anders als üblich. Nervös zuckten nun auch die Mundwinkel des Burgführers. Dann ein langes, endloses Schweigen. Auf einmal ein Geflüster. Nach einer Weile hatte sich der Führer wieder gefasst, legte die Finger auf die Lippen und meinte belustigt: »Lassen wir die Toten in Ruhe, so können sie ungestört ihren Totentanz fortführen. Das sind die Seelen, die gesündigt, ihre Taten aber nie bereut haben.«

Marcy betrachtete ihn vorwurfsvoll und antwortete ärgerlich: »Wieso sollten diese gepeinigten Menschen Taten eingestehen, die sie nie begangen haben? Solche Anschuldigenden sind nicht witzig. In diesen alten Mauern ist Fürchterliches geschehen. Menschen wurden durch die Inquisition grauenvoll gefoltert und hingerichtet. Vielleicht sind es verstörte Seelen, die den Weg ins Licht nicht finden können? Aber viel wahrscheinlicher irren die geistlichen Richter, welche damals dem Teufel die Hand gereicht haben und nun den Weg aus der selbst erschaffenen Hölle nicht mehr finden können, selbst umher. Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Das ist nur gerecht. Die Menschen werden nicht von einem rächenden Gott gerichtet. Es ist einfach nur Ursache und Wirkung.«

Der Burgführer schaute sie verwundert an, zog es aber vor, das Thema zu wechseln. Doch er konnte es nicht aufhalten. Das Gespräch, von Spekulationen gespickt, wanderte bereits von Mund zu Mund weiter. Jeder hatte etwas Wichtiges zu sagen.

Der spöttische Beitrag eines dicklichen, jungen Mannes löste wieder ein Grinsen in der Gruppe aus: »Ach, ich glaube jetzt an alles, an Hexen, Geister und an den Rattenkönig.«

Der Burgführer drängte die Gruppe weiterzugehen und war froh, als die Führung endlich zu Ende war. Irgendetwas war heute wirklich anders als sonst. Etwas, das mit dem menschlichen Verstand nicht zu erklären ist!, dachte er für sich.

Von Marcy bekam er kein Trinkgeld.

Marcy und Vinzenz waren froh, wieder an der frischen Luft zu stehen. Marcy fühlte, dass bei ihr eine karmische Verbindung mit den einstigen Geschehnissen in diesen Klosternmauern bestehen musste. Ihr Blick blieb an der kleinen Kapelle etwas unterhalb der Burg hängen. Sie hatte ein leicht geknicktes Satteldach. Etwas drängte sie, noch einen Blick in das kleine Gotteshaus zu werfen. Ohne lange zu zögern, lief sie den schmalen Fußpfad zur Kapelle hinunter. Ihr eröffnete sich eine herrliche Aussicht über das ganze Land. Vinzenz zog es vor, auf sie zu warten. Etwas blockierte ihn generell, kirchliche Einrichtungen zu besichtigen. Er konnte es sich auch nicht erklären.

Marcy betrat die Kapelle durch ein überdachtes Portal, über dem sich gotische Bögen aus riesigen Eichenbalken erhoben. An einem Brett vor dem Portal waren Anschläge angebracht, und darunter hing ein kleiner Opferstock für den Unterhalt der Kirche. Sie stieß die sonnenverbrannte Eingangstür auf. Der gekreuzigte Jesus dominierte das Altarbild. Daneben auf einem Bild Maria mit ihrem Kind. Sie hatte die Ausstrahlung einer vollkommenen Frau. Leise setzte Marcy sich in die vorderste Kirchenbank und betrachtete die geschnitzte Holzfigur. An den Wänden des Schiffes hingen Kreuzwegbilder.

Wie brutal und herzlos die Menschen doch waren. Das Morden ohne Grund ist auch heute noch brutale Wahrheit, dachte sie.

 Für einen kurzen Augenblick schloss Marcy die Augen. Es war ein Hineinfühlen in die Geschichte von Golgatha. Ihre Seele war entrückt und erlebte eine Vision. Die feinstofflichen Kräfte dieser verhüllten Welt inspirierten sie. Sie spürte die Seele dieses Ortes und öffnete die Augen wieder. In der Luft wehte ein Hauch von Magie. Durch das kleine Kirchfenster bahnte sich ein Lichtstrahl, in welchem viele kleine Staubkörner tanzten und die Christusstaue beleuchteten. Der ganze Kirchenraum erfüllte sich mit Licht. Es herrschte eine mystische, magische Stimmung.

Etwas Unbekanntes flüstert leise: »Um ans Licht zu kommen, musst du die Welt des Nebels durchqueren. Ich leite dich über die Grenzen hinweg. Wo der Nebel sich allmählich lichtet.«

Dann lag die Welt des geistigen Höhenflugs auf einmal vor ihr. Ein Lichtschimmer glänzte auf und das Kreuz, seit jeher das Symbol für Liebe und Leid, wurde ganz durchsichtig. Die Luft schien elektrisch aufgeladen zu sein. Licht und Glanz umhüllten Marcy. Ihre Seele verschmolz mit dem Lichterglanz. Sie fühlte die Verbindung mit dem Gekreuzigten. Eine übermächtig pulsierende Kraft erfüllte ihren Geist. Einige grausige Bilder tauchten aus vergangenen Zeiten in ihrer Seele auf. Bilder, die man eigentlich lieber nicht sehen möchte. Ihre Augen schauten ganz erstaunt. Sie schien etwas zu erblicken, was nur sie sehen konnte. Durch Leid und Schmerz war sie offenbar zur mystischen Erleuchtung gelangt. Deren Wärme nahm ihr den Schrecken vor den Gräueltaten. Ein Engel kam aus dem Irgendwo, wo Meer, Stürme und Geisthauch ineinanderfließen, herbeigeflogen und öffnete die Pforte des verschwiegenen Tempels.

Es war der Tempel der unbekannten Welt, in die man zuerst hineinzuschauen lernen muss. Ihr Geist sah nur noch Licht und Glanz, verschmolz mit diesem Licht wie ein Stück Eisen, das ins Feuer gelegt wird und dann selbst zu Feuer und Glut wird. Sie konnte für einen Augenblick Anteil an der Ewigkeit haben.

»Wo bist du mit deinen Gedanken!«, hörte sie Vinzenz neben sich fragen, welcher sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Sie hatte nicht bemerkt, dass er schon eine Weile neben ihr in der Kapelle saß. Instinktiv hatte er sich einen Schups gegeben, Marcy innerlich zu folgen. Eine Kirche zu besuchen, kostete ihn so viel Überwindung, als ob jemand mit Höhenangst auf den höchsten Turm klettern muss.

Sie war froh, seine Nähe zu spüren. Nach langem Schweigen antwortete sie: »Du hast wirklich etwas Unglaubliches fertiggebracht, indem du nun hier drinnen neben mir sitzt!«

Sein Gesicht lief etwas rot an, doch seine Stimme zitterte vor Stolz und Liebe. Sie umarmten sich und genossen diesen Augenblick. Plötzlich verschwand Marcys Lächeln wieder. Hinter jedem Licht steht auch ein Schatten.

 »Vinzenz, ich muss herausfinden, in was für eine Geschichte wir einst verstrickt waren. Die Geister der Hölle sind einst losgelassen worden und haben auch mich nicht verschont. In einer Rückblende sah ich mich für einen kurzen Augenblick in einem früheren Leben. Es schien, dass mein Körper zerstört worden ist, doch meiner Seele konnten sie nichts anhaben. Aber es waren nur kleine Bruchstücke von einer Lebensbiografie, die ich erhaschen konnte.«

Vinzenz schaute sie erstaunt an. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Seinerseits kam ein etwas verlegenes Lächeln.

Als sie die Kapelle verließen, strahlte ihnen das grelle Tageslicht entgegen. Irgendwo im Schlosspark hörten sie den Lärm einer Motorsäge. Der Alltag hatte sie wieder. Sie schritten langsam über den alten Friedhof, der hinter der Kapelle lag. Eine Kiefer, in welcher ruhelos ein Vogel flatterte, neigte sich. Wer wusste schon, wie alt dieser Baum eigentlich war. Noch ahnten sie nicht, dass die Entwirrung eines dunklen Geheimnisses begonnen hatte.

Während Marcy an diese Ereignisse denkt, ist Vinzenz mittlerweile auch aufgewacht und schaut Marcy schon eine Weile lang zu, wie sie da in der Yoga-Stellung sitzt.

In dieser Frau verbirgt sich ein Weltgeheimnis, rätselhaft und nicht deutbar, denkt er für sich.

Sie öffnet die Augen, lächelt.

Vermag sie meine Gedanken zu erraten?, schießt es ihm durch den Kopf.

Sie steht auf und kriecht zu ihm unter die Bettdecke. »Guten Morgen, mein Schatz!«, wispert sie leise und haucht einen Kuss auf seine Lippen.

Im selben Augenblick klingelt sein Handy-Wecker. Vinzenz greift danach, um den Störenfried auszuschalten. Bewusst hat er ihn früher als notwendig klingeln lassen. Wohl in der Annahme, noch ein paar Augenblicke mit Marcy genießen zu können, bevor sich ihre Wege wieder trennen.

Es fällt beiden schwer, sich nach dieser Nacht und den letzten zwei Tagen wieder zu verabschieden. Marcy hebt den Kopf, als möchte sie etwas sagen, lässt ihn aber wieder sinken und kuschelt sich in seine Arme. Beide haben keine Lust aufzustehen, doch einschlafen dürfen sie auch nicht mehr. Die Pflicht, die ewige Pflicht schreit lautstark. Doch ein paar wenige Minuten gehören ihnen noch. Nochmals stürzen sie sich in die süße Liebe. Küsse hängen an den Lippen, wild schlagen die Herzen, die Körper sind bis zum Zerbersten gespannt. Die Seelen der beiden spiegeln ineinander. Sie versinken im allumfassenden Glück. Die wärmende Bettdecke gleitet langsam herab und bleibt als stummer Zeuge am Boden liegen. Ihre Herzen stehen in Flammen. Brennend vereinen sie sich. Das Feuer der Liebe flackert heiß und hüllt ihre Seelen wärmend ein.

Es ist wirklich keine rasch vorübergehende Verliebtheit. Kein Strohfeuer, das nur kurz aufflackert. Es ist eine Liebe zwischen den Beiden, die Geheimnisse in sich verbergen, nicht fassbar und trotzdem da. Eine Liebe, der man nur einmal im Leben begegnet und doch erlaubt sie kein Miteinander, wie es sich ein Liebespaar eigentlich wünschen würde. Es ist eine geheimnisumwitterte, nebulöse, schleierhafte Liebe. Der Ursprung liegt irgendwo in einem früheren Leben. Die Frage ist, wo? Aber gibt es Reinkarnation, Wiedergeburt überhaupt?

»Ach, wie schade, alles geht so schnell vorbei«, seufzt Vinzenz. Blitzschnell steht er auf, taumelt zum Fenster und schiebt die Vorhänge auseinander. Draußen ist es nasskalt und nieselt. Dann dreht er sich um, hebt die Bettdecke auf und macht einen Sprung ins Bett. Eine Weile noch albern sie herum, dann ein erschrockener Blick auf die Uhr: Es ist höchste Zeit aufzustehen.

Vinzenz sieht gut aus, sogar sehr gut. Er ist groß und breitschultrig, obwohl er bereits in der Mitte des Lebens steht. Marcy ist etwas jünger. Auch sie ist groß und schlank und hat das gewisse Etwas, das die Männer in den Bann zieht. Eine zeitlose Schönheit, nicht aufdringlich, eher geheimnisvoll. Sie steht vor dem Spiegel, schaut sich abwesend an.

Wer bin ich wirklich? Was für eine Geschichte wollen mir die Urtiefen der Seele erzählen? Was verbirgt sich hinter dem Schleier des Vergessens? Das Wahre ist nur in den Urtiefen zu finden, im Spiegelbild des Lebens. Aber wie lüfte ich dieses Geheimnis?

Vinzenz sitzt auf dem Bett und schaut nach den Mitteilungen auf seinem Handy. Plötzlich klingelt es. Er nimmt den Anruf entgegen. Offenbar gibt es bei einem Kunden Probleme. Vinzenz sieht wütend aus. Er schüttelt den Kopf und schreit schon fast ins Handy: »Ich verstehe Ihren Ansatz nicht! Wie soll ich das Problem lösen, wenn Sie nicht in der Lage sind, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden? Meine Agenda ist für heute total ausgebucht. Doch ich werde einen Umweg fahren und bei Ihnen vorbeischauen!«

Er legt auf und presst seine Finger gegen die Schläfen in der Hoffnung, seinen vollen Tagesplan doch noch irgendwie einhalten zu können.

Aus den Augenwinkeln betrachtet er Marcy. Während des langen Anrufes hat sie sich angezogen. Etwas missmutig läuft sie im Zimmer hin und her, sucht ihre Sachen zusammen und stopft sie in den Koffer. Bald steht wieder der schreckliche Abschied bevor. Diese Abschiede sind immer sehr schmerzhaft, denn es wird wieder lange dauern, bis sie sich sehen können.

Aber sie haben es so vereinbart. Vinzenz will sich nicht binden. Bei dem Gedanken an eine feste Beziehung kommt bei ihm Panik hoch. Er hat das Gefühl, dass es Unglück bringt. Er ist ein ruheloser Typ, ständig auf Achse. Manchmal denkt Marcy, er flüchte vor etwas Unfassbarem, Rätselhaftem, das sich nicht erklären lässt. Gemeinsam haben sie bereits sein Leben durchleuchtet und nach Ursachen für sein eigenartiges Verhalten gesucht. Doch sie haben kein Erlebnis gefunden, das ihn so traumatisiert haben könnte.

Er hat eine sehr gute Kindheit gehabt, ist hoch intelligent und beruflich äußert erfolgreich. Es ist auch nicht so, dass er seine Freiheit als ungebundener Mann ausnutzt. Die Frauen liegen ihm zu Füßen. Doch kaum hat er eine erobert, kann er nichts mehr mit ihr anfangen. Mit Marcy hingegen ist es anders. Hoch und heilig schwört er ihr immer wieder, nur sie zu lieben, was sie ihm sogar glaubt.

 »Ich bin dein Märchenprinz und du meine Prinzessin!«, pflegt er zu sagen. Oft fantasiert er sich dann in eine Geschichte von Yin und Yang hinein. Er kann dann so herzlich lachen und holt Marcy damit jedes Mal aus ihrer melancholischen Stimmung heraus.

In nächster Zeit wird sich an der Situation also nichts ändern. Aus Marcys Sicht verläuft das Ganze völlig falsch, denn gerne würde sie endlich einen Schritt weiterkommen und täglich neben ihm aufwachen. Doch das bleibt Wunschdenken. Vielleicht ist es auch bittere Notwendigkeit, dass sie sich nicht allzu sehr in Gefühlen verlieren? Vielleicht sind diese Augenblicke so wertvoll, dass man sie als kostbare Erlebnisse stehen lassen muss? Vielleicht belügen sie sich aber auch selbst? Vielleicht ist es einfach eine plumpe Ausrede. Vielleicht, vielleicht, vielleicht!

Trotz aller Vernunft wird sie ihn in der nächsten Zeit schmerzlich vermissen. Ausgesprochen hat sie das nicht, aber es ist die Wahrheit. Marcy ist überzeugt, dass es kein Zufall gewesen ist, dass sie sich begegnet sind. Es ist sogar eher so gewesen, dass sie sich zugefallen sind. Etwas Karmisches hat sie verbunden. Unendlich viele Gedanken hat sie sich schon gemacht, wieso er sich so vehement gegen eine feste Verbindung wehrt. Doch sie bleibt ratlos.

Es ist, als hätte dieser Ruf nach Aufklärung die Urtiefen ihrer Seele erreicht. Marcy hat wirklich vermehrt angefangen, von Begebenheiten aus einem anderen Leben zu träumen. Und dann das Erlebnis in der alten Burg. Das ist alles so eigenartig.

Vinzenz hat verschmitzt gelacht, als sie ihm gestern beim Abendessen wieder davon erzählt hat. Er weiß nicht so genau, was er von dem Gedanken halten soll, dass ihre Liebe einen Ursprung in einem anderen Leben haben soll. Eigentlich ist er nur höflich geblieben, um Marcy nicht zu beleidigen. Wenn er ehrlich ist, glaubt er gar nicht an Reinkarnation. Auch von der Kirche hat er sich völlig abgewendet. Von diesen Geistlichen hält er absolut nichts, obwohl er durch sie in seinem Leben nie etwas Schlechtes erfahren hat. Er glaubt eigentlich nicht an eine Welt jenseits der sichtbaren Welt. Doch Marcy zuliebe hält er sich jeweils mit seinen Bemerkungen zurück, wenn sie von Wiedergeburt und Karma spricht. Dass er gestern die Kapelle betreten hat, ist eine absolute Ausnahme gewesen. Etwas, das er nicht hat orten können, hat ihn dazu gedrängt. Es ist einfach die Liebe zu Marcy.

Vinzenz mustert sie von oben bis unten, steht auf, umschließt ihre Hände und schaut sie liebevoll an. Eine ungeheure Wärme geht von ihm aus.

»Mir kommen eine Menge Möglichkeiten in den Sinn, wenn ich dich so ansehe, meine Liebe. Ich genieße die wenigen Stunden mit dir. Es sind so wunderbare Momente, die uns aus dem Alltag herausheben. Diese Augenblicke gehören nur uns. Wären wir in einer festen Beziehung, gäbe es diese Highlights nicht mehr. Davon bin ich überzeugt.«

Widersprechen wäre sinnlos. Marcy presst die Lippen zusammen und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie unendlich traurig ist. Jedes Mal wenn Vinzenz sie küsst, fühlt sie diesen Hauch von Sehnsucht, sich für immer im Himmel zu verlieren. Ihn zu lieben heißt, das Herz zum Leuchten zu bringen. Die Zeit mit ihm ist so kostbar, dass sie sich wünschte, mit ihm ins Paradies reisen zu können, durch Raum und Zeit. Dann die Zeit anhalten und mit offenen Augen zu träumen.

Marcy seufzt und denkt: Warum bin ich eigentlich hier? Warum verlasse ich ihn nicht? Unsere Liebe wird wieder für lange Zeit zur Eisblume erstarren. Alles bäumt sich in mir auf. Der Schmerz und die Sehnsucht werden mein Herz wieder in Stücke reißen.

Dann tippt sie sich ärgerlich mit den Fingerspitzen auf die Stirn. Wie kann sie nur ans Aufgeben denken? Sofort verdrängt sie diesen Gedanken wieder. In diesem Moment legt Vinzenz zärtlich seine Arme um sie, zieht sie zu sich hin und küsst sie sanft. Es tut gut, ihn zu spüren. Sie verlassen das Zimmer und gehen gemeinsam zu einem schnellen Frühstück unten in der Hotelcafeteria. Vinzenz witzelt: »Du bist bei mir in ein Räuberhaus geraten. Ich habe deine Seele gestohlen! Das ist eine unglaubliche Nacht gewesen. So unglaublich, dass ich sie nie vergessen werde.«

Marcy lächelt. Wie recht er doch hat. Plötzlich klingelt sein Handy wieder und es kommt Hektik auf. Es schrillt ununterbrochen, sodass Vinzenz zum Gehen drängt. Der Alltag hat sie wieder in Besitz genommen.

Der Taxifahrer wartet bereits in der Lobby, als Marcy und Vinzenz mit dem Gepäck aus dem Lift kommen. Er schnappt sich Marcys Gepäck, geht nach draußen und verstaut es im Kofferraum. Vinzenz deponiert seinen Koffer in der Hotelhalle. Nun ist der Moment des Abschieds gekommen. Marcy schließt die Augen und legt ihre Arme um seinen Hals. Nochmals küssen sie sich kurz, aber innig, als wären nur sie beide auf der Welt. Ihre Liebe ist wirklich so tief, als würde der eine im anderen ertrinken.

»Mein Atem ist dein Atem geworden. Ich liebe dich. Das wird immer so bleiben, auch wenn du dadurch oft leiden musst. Ich denke, eines Tages werde ich bei dir bleiben können«, haucht Vinzenz ihr ins Ohr. Sie schaut ihn überrascht an. Er schmunzelt und nimmt ihr die Zweifel. »Es ist wirklich mein Wunsch, bald für immer mit dir zu leben. Mit dir durch die Wolken und zu den Sternen hinauf zu schweben. Dieser warme, vertraute Sternenglanz wird uns immer wieder verzaubern. Mit dir lachen, tanzen und fröhlich sein. In den Tagen ohne dich ist mein Leben ohne Licht.«

Marcy hat ihm mit einem gespannten Gesichtsausdruck zugehört. Überrascht starrt sie ihn an. Dieser Mann macht sie wahnsinnig. Es ist noch keine Stunde her, da hat er ganz anders geredet. Er ist wie ein Pubertierender, der nicht weiß, was er will. Marcy rollt eine Träne über die Wange. Vinzenz küsst sie ihr weg, umarmt sich nochmals herzhaft. Diese wunderbaren Worte wird Marcy nie vergessen. Es ist das höchste Gefühl, das schönste Geschenk, das er ihr auf den Weg mitgeben kann. Aber sind sie auch ehrlich gemeint?

Der Taxifahrer kommt zurück und zeigt nervös auf die Uhr. »Sie wollen doch den Morgenzug erreichen?«

Als Verliebte bummeln sie eng umschlungen hinter dem Taxifahrer her, als hätten sie keine Eile. Vinzenz nimmt nochmals ihre Hände, küsst sie, schaut sie an, als wolle er noch etwas Wichtiges sagen. Marcy hat das Gefühl, dass unausgesprochene Worte in der Luft hängen. Vielleicht ein Heiratsantrag?, spekuliert sie in Gedanken. Vinzenz holt tief Luft und zögert. Marcy erlöst ihn und drängt zum endgültigen Abschied. Sie muss unbedingt den eingeplanten Zug erreichen. Offenbar ist es nicht der richtige Augenblick für einen Antrag. Oder ist es einfach ein alberner Wunschgedanke von mir?, denkt Marcy enttäuscht. Sie vermeidet es, ihm in die Augen zu schauen, denn sie ist den Tränen nahe. Vinzenz fühlt ihre Enttäuschung.

»Bist du enttäuscht?«

Marcy errötet. Ihr Herz pocht bis zum Hals: »Warum sollte ich enttäuscht sein? Das würde ja heißen, ich hätte mir Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gemacht«, erwidert sie zynisch. Sie sieht, wie seine Augen nervös zucken. Ohne seine Antwort abzuwarten, besteigt sie blitzschnell das Taxi, das sie zum Bahnhof bringen soll. Sie schließt die Tür, winkt ein letztes Mal, schickt Vinzenz ein Handküsschen. Dann verschwindet das Taxi im lebhaften Morgenverkehr. Marcy fühlt eine schreckliche Leere in sich.

Vinzenz bleibt noch eine Weile mit verschränkten Händen hinter dem Rücken im Regen stehen. Verdammt. Das ist jetzt aber schnell gegangen. Er fühlt sich miserabel, als Feigling, weil er wieder unterlassen hat, Marcy zu bitten, seine Frau zu werden. Er ist ein Künstler, wenn er etwas formulieren soll und dabei keine feste Zusage geben muss. Aber bei Marcy ist alles anders. Er kann sich sein Verhalten selbst nicht erklären. Zum ersten Mal schämt er sich seiner Hilflosigkeit wegen. Er hat das Problem nicht lösen können. Plötzlich ist ihm ganz komisch zumute. Das unerträgliche Gefühl der Trennung erreicht seine Magengrube. Er verspürt so etwas wie Übelkeit, aber nicht körperlich, sondern seelisch.

Ist das eine Warnung? Wer bin ich eigentlich? Warum quäle ich mich so sehr, eine Verbindung mit Marcy einzugehen? Gibt es doch eine unsichtbare Wirklichkeit, wie Marcy sagt?

Diese Fragen tanzen in seinem Kopf herum. Ein großes Geheimnis liegt in ihrer Beziehung.

Der Portier holt ihn aus seinen Gedanken und ruft ihm ins Gedächtnis, dass er immer noch im Regen steht. Vinzenz antwortet nicht, nickt nur mit dem Kopf. Er versucht zu lächeln, aber es klappt nicht ganz. Es gleicht eher einem schiefen Grinsen. In trübseliger Stimmung geht er in die Hotelhalle zurück und bezahlt die Rechnung. Schleunigst nimmt er seinen Koffer und fährt mit dem Lift in die Tiefgarage. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, sehr viel auf Reisen, denn seine Kontakte reichen über die ganze Welt. Eigentlich hängt er mit Leib und Seele an seinem Beruf. Jedenfalls glaubt er das. Er verstaut den Koffer im Kofferraum, schaut auf die Armbanduhr. Die Zeit drängt. Er ist wirklich spät dran. Es ist deutlich nach sieben Uhr. Seine Planänderung, der unerwartete Kundenbesuch, den er noch einschieben muss, macht ihm etwas Sorgen. Als er aus der Tiefgarage fährt, bewegen sich die Fahrzeuge nur sehr langsam durch die verstopften Straßen.

Er hat viel Zeit zum Nachdenken, bis er endlich die Autobahn erreicht. Die Sicht wird von Sekunde zu Sekunde schlechter. Nebel legt sich wie Watte über die Straßen. Er ist gezwungen, das Tempo zu verringern. Ständig muss er an Marcy denken und sich eingestehen, dass auch er traurig ist. Er murmelt vor sich hin. »Hat mich Marcys melancholische Stimmung etwa angesteckt? Eigentlich haben wir doch gedacht, es sei ein Triumph für uns beide, dass wir nicht ständig aneinanderkleben. Keine Eifersucht kennen, nur die wunderschönen Augenblicke genießen, die uns gegönnt sind. Die Regeln unserer Beziehung, unseres Liebespiels sind doch so ausgemacht. Marcys Benehmen ist so eigenartig. Will sie die Spielregeln ändern? Dann soll sie es doch sagen! Ist unsere Liebe überhaupt eine realistische Liebe? Oder ist sie nur eine gedachte, erhoffte, utopische Liebe? Wer erfährt schon eine Liebe, die nicht mit Schwierigkeiten behaftet ist? Gibt es die vollkommene Liebe überhaupt? Eine, die nicht bei den ersten Schwierigkeiten gleich wieder erkaltet, erstarrt und schlussendlich in Hass umschlägt?«, tröstet er sich selber.

Die Meldungen im Radio über die verheerende Situation auf den Straßen, Nebel und Regenschauer, holen ihn zurück in die Realität. Nervös schaut er auf die Uhr. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Bei diesem Tempo werde ich niemals pünktlich sein.«

Er schwenkt aus und wechselt auf die Überholspur, drängelt und nimmt die Lichthupe zu Hilfe. Das Lied, das gerade im Radio läuft, erinnert ihn wieder an Marcy. Er verspürt plötzlich eine innere Leere, fast schon eine Depression, die sich wie wucherndes Unkraut in seiner Seele ausbreitet. Bis jetzt hat er einfach nicht wahrhaben wollen, dass das Leben ohne Marcy dürr und öde ist. Ohne sie fehlt das Wesentliche, das befruchtende Element, das Lebenselixier. Er muss sich eingestehen, dass auch er ihre Zärtlichkeit, ihren Duft, ihre Liebe braucht. Seine Sehnsucht nach ihr überkommt ihn wie ein Sturm auf dem Meer. Glücklich ist er nur mit ihr, diese Tatsache kann er nicht mehr leugnen. Aber nun muss er sich auf den Straßenverkehr und seine Geschäfte konzentrieren. Seine Gedanken schweigen.

Ein lautes Hupen holt ihn aus seiner inneren Spannung heraus. Er ist immer noch auf der Überholspur und fährt schnell, spürt aber, dass er das Tempo verringern muss. Auf der rechten Spur schleicht der Verkehr immer mühsamer durch den Nebel. Also bleibt er auf der Überholspur.

Plötzlich überkommt ihn ein Gedanke, der ihn nicht mehr loslässt. Er muss Marcy einen Heiratsantrag machen. Vielleicht nicht gerade besonders romantisch per Handyanruf. Aber der Überraschungseffekt wäre ihm bestimmt sicher. Das wäre das Aus der Wochenendbeziehung. Vorbei die Zeit der ewigen Sehnsüchte. Er sucht nach den richtigen Worten und dichtet: »Du und ich fern von Raum und Zeit, die Augenblicke genießen für die Ewigkeit. Es ist das Atemlose, wo Liebe und Glück sich die Hand reichen.«

Seine Zweifel sind auf einmal wie weggeblasen. Jetzt, als er sich durchgerungen hat, kann er sein zurückhaltendes Verhalten gar nicht mehr verstehen. Er ist so ein Idiot gewesen! Sein Entschluss ist gefasst. Noch heute will er ihr einen Heiratsantrag machen. Nein, nicht einfach irgendwann heute, sondern gerade jetzt. Er schaut kurz zum Beifahrersitz, holt sein Handy hervor und will Marcy anrufen, da knallt es fürchterlich. Vinzenz ist nicht mehr Herr über sein Auto.

Marcy denkt während der Fahrt durch den Morgenverkehr an die schönen Stunden mit Vinzenz zurück. An seine hoffnungsvollen Worte zum Abschied. Leise klopfen die Regentropfen an die Autoscheiben. Das Leben könnte wie aus Samt und Seide sein: herrlich weich und träumerisch! Man denkt, das Leben sei fassbar, doch plötzlich entgleitet es einem wieder. Marcy fühlt sich allein. Ihre Seele hat sich mit einer dunklen Wolke überzogen. Hat sie Angst, Vinzenz zu verlieren? Wer ist er eigentlich?, denkt sie. Für mich ist er ein ungelöstes Geheimnis. Wie ein verschnürtes Paket in braunem Packpapier. Zwar habe ich den Knoten und die Schnur gelöst. Doch das Paket ist zusätzlich mit Klebestreifen verklebt. Ich wünschte mir, das Packpapier würde jetzt zerknüllt am Boden liegen und ich könnte den Inhalt erkennen. Wo alles vom Glanz des Lichtes überzogen würde und in deren Einheit wir uns als Ehepaar spiegeln würden. Vinzenz Zärtlichkeit macht mich atemlos, das ist unbestritten. Es sind Momente, die mir den Atem rauben. Liebe ist ein Teil des Lebens. Liebe ist ein Stück vom Glück. Liebe ist ein Gefühl, das unsterblich ist. Liebe ist, was ich für ihn empfinde, meinen geliebten Vinzenz.

Sie spürt, wie ihr Tränen in die Augen schießen. Sie will eigentlich nicht mehr an ihn denken. Doch irgendwie werden die Gedanken an ihn stets stärker. Sie fliegen nicht einfach davon wie ein Blatt im Wind. Sie grübelt weiter: Anderseits findet man den eigenen Weg nur, wenn man bereit ist, das Liebgewordene loszulassen. Ein Vogel kann auch nur fliegen lernen, wenn er das sichere Nest verlässt.

Ihr Herz brennt in allen Farben.

Kann ich mir die Idee, dass er mich jemals heiraten wird, überhaupt aus dem Kopf schlagen? Doch andererseits frage ich mich, wieso soll ich überhaupt heiraten?

Ihre Gefühle fahren Achterbahn. Objektiv zu denken, ist im Moment unmöglich. Sie befindet sich auf der Straße der Sehnsucht. Ein Hupen und ein brüskes Bremsen holt sie aus ihren verwirrten Gedanken. Sie schaut nervös auf die Uhr. Es geht nur mühsam vorwärts. Der Taxifahrer beschließt, einen anderen Weg zu nehmen. Das beruhigt sie etwas und stimmt sie optimistisch, den Zug doch noch rechtzeitig zu erreichen. 

+++ +++ +++

Textprobe: Mirjam Wyser

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