Leseprobe "Das Krugelmonster"
von Mirjam Wyser
Alter: 5 - 12 Jahre, Taschenbuch, 132 Seiten, ISBN: 978-3-945509-38-8
Mit 12 ganzseitigen Illustrationen des Künstlers Étienne Pascal
Inhaltsverzeichnis
Das Krugelmonster
Mirkos Zauberschule
Die alte Kräuterfrau
Das runde Häuschen
Die Müllmänner
Die alte Fabrik
Im Stadtpark
Flussabwärts
Der alte Leuchtturm
Das Frachtschiff
Bei den Matrosen
Der Geist des Windes
Der Maskenball
Der Mechaniker
Ein neuer Kontinent in Sicht
Neue Erlebnisse
Ein armes Dorf
Bei den Beduinen
Der große Geist der Wüste
Der König
Der Ruf des Nordens
James der Pilot
Die Hexe
Fee Manolina
Viele Jahre später
Das Krugelmonster
Das Krugelmonster ist wirklich hässlich. Es sieht fast wie ein Ungeheuer aus.
Es ist ein heißer Tag im Juli. Blitze zucken, Donner dröhnen, prasselnd klatscht der Gewitterregen auf die Erde. Die Straßen sind fast menschenleer. Einige Jugendliche haben Schutz in einem Hauseingang gefunden. Zwischen parkenden Autos schleicht sich eine komische Gestalt, ähnlich wie ein Kartoffel-sack, mit etwas zu großen Füssen, ein paar ungeordneten Haarbüscheln auf dem Kopf und etwas zu langen Armen, hindurch. Bei jedem seiner tapsigen Schritte wirbelt das Regenwasser auf. Von dem komischen Geräusch erschreckt, starren die Jugendlichen zu den Autos hinüber. Sie trauen ihren Augen kaum, als sie das plumpe Krugelmonster erblicken. „Was ist das für ein merkwürdiges Geschöpf? Das sieht aus wie ein plumpes Warzenschwein!“, schreit ein Jugendlicher grölend und zeigt auf das geheimnisvolle Ungetüm. Die Gruppe kommt aus dem schützenden Hauseingang hervor und umzingelt das eigenartige Wesen. Zuerst sind alle von dem ungewöhnlichen Anblick etwas benommen. Plötzlich fangen alle an, schallend zu lachen und zu spotten.
Das Krugelmonster wischt sich den Regen aus dem Gesicht, um besser zu sehen. Eigentlich wischt es sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ist das ein Spuk? Ein Gespenst?“, kichern die Jugendlichen. Scheu sagt das Krugelmonster: „Nein, ich bin kein Spuk, auch kein Gespenst. Ich bin Wirklichkeit!“
„Was ist mit dir geschehen, dass du so hässlich geworden bist?“, fragt ein Mädchen, voll Erbarmen. Bevor das Monster etwas antworten kann, zückt ein junger Mann sein Handy und knipst Foto um Foto. Die anderen folgen seinem Beispiel. In angeheizter Stimmung spottet und lacht die Gruppe schallend. Plötzlich hat das Krugelmonster genug von dem Gespött. Mit seiner Riesenkraft schupst es die Jugendlichen unsanft zur Seite. So heftig, dass sie nach einander in die Regenpfützen fallen. Fluchend sind sie beschäftigt, sich wieder aufzurichten und die Handys aus dem Regenwasser zu retten. Das Krugelmonster verschwindet schnurstracks um die Hausecke. Als die Jugendlichen sich vor dem Schock erholt und sich wieder aufgekrempelt haben, verfolgen sie das Ungeheuer mit aufgeheiztem Geschrei. Doch es bleibt verschwunden.
Das Krugelmonster wälzt, humpelt, purzelt schwerfällig voran. Das ist seine gewohnte Gangart. Es schleicht wie ein Dieb durch die menschenleeren Straßen, um ja nicht gesehen zu werden. Sein Herz ist traurig und leer. Bald hält es inne und horcht, niemand mehr, dass es verfolgt. Es legt sich in ein Gebüsch am Stadtrand und schläft traurig ein. Am liebsten würde es gar nicht mehr aufwachen.
Mirkos Zauberschule
Das Krugelmonster war nicht immer so hässlich. Einst war es ein junger Mann, der verhext worden ist. Er war auf die falsche Bahn geraten, hatte den falschen Freunden vertraut. Etwas Widerliches, mit Fangarmen, hat schleichend die Macht über ihn erlangt. Wie eine Spinne umgarnte es den jungen Mann, bis er nur noch im Netz zappeln konnte.
Der dunkle, spinnenartige Schatten, der ihm Tag und Nacht begleitet, ist ein Gespenst aus der finsteren Welt. Das Ungeheu-er aus der dunklen Welt hat die Klauen nach ihm ausgestreckt und ihn zu seinem Diener gemacht. Damit das böse Gespenst stark wurde, stahl es das Seelenlicht des jungen Mannes. Das böse Wesen hat ihm täglich aus dunklem Munde eingeredet, gemeine und hinterhältige Taten auf der Erde auszuüben. Und der junge Mann hatte alles so gemacht, wie es das böse Gespenst wollte.
Doch eines Tages hatte er genug davon, Diener des Bösen zu sein. Da wurde das böse Gespenst sehr wütend und hat ihn zu dem hässlichen Krugelmonster verhext. Dabei hatte das finstere Wesen schallend gelacht und ihm höhnisch zugerufen: „Auf immer und ewig wirst du so hässlich bleiben. Niemand wird die Macht haben, den bösen Zauber rückgängig zu machen!“
Das Furchtbarste von nun an war, dass er sich an niemanden wenden konnte, um Hilfe zu bitten. Der junge Mann wurde als Krugelmonster immer einsamer. Sein irdisches Leben ist in Trümmer gefallen. Und so versucht es träumend zu lernen, einen Steg zu bauen, zwischen der Erden und der Himmelswelt.
Eines Tages hat das Krugelmonster einen wunderbaren Traum. Es sieht ein leuchtendes Gesicht so wunderschön, wie er noch nie etwas gesehen hat. Das Gesicht gehört einer entzückenden Fee. Und wunderbar in ihrem Flügelkleid tanzt sie und ihre Füße säen Licht. Plötzlich hört die wunderschöne Fee auf zu tanzen und wird sehr traurig: „Du kannst den Weg zu den Sternen wieder finden, doch er wird steinig und schwer sein.“
Da begreift das Krugelmonster, dass sein hässliches Aussehen eine Strafe ist. Alles ist schiefgelaufen. Das Böse hatte seine Klauen nach ihm ausgestreckt, es umgarnt und für seine bösen Zwecke missbraucht. Das böse Gespenst hat es in seiner Gewalt. Diese Tatsache stimmt das Krugelmonster so traurig, dass es auf den Boden fällt und fruchtbar weint. Sein Kopf dröhnt, sein ganzer Körper schmerzt. Es muss den Willen aufbringen, sich von diesem bösen Wesen zu befreien.
Dieser außergewöhnliche Traum muss in sein Gedächtnis ein-gebrannt werden. Noch ahnt das Krugelmonster nicht, dass dieser Traum sein ganzes Leben verändern wird. Das Monster hat ein so ein hässliches Aussehen wirklich bekommen, weil es den Menschen alles mögliche zuleide tat: Über unschuldige Mitmenschen Lügen verbreitete, sie bestohlen, ausgelacht und verprügelt hatte. Manche sogar hinterhältig ins Unglück stürzte.
Nun muss es am eigenen Leib spüren, was es heißt, unschuldig ausgelacht und verspottet zu werden und keine Freunde zu haben.
Aber von diesem Moment an, als das Krugelmonster die schöne Fee Manolina im Traum gesehen hatte, konnte es an nichts anders mehr denken als an sie. Das Fenster zum Glück wurde für einen Augenblick geöffnet. Der Wille ist da, sich von dem bösen Tun zu trennen, ihm einem hinterzieht. Es hat sein Seelenkleid aus Unehrlichkeit und Bosheit geschmiedet. Da braucht es sich nicht zu wundern, dass es so hässlich aussieht. So beschließt es, sich auf den Weg zu machen, um sein hässliches Seelenkleid loszuwerden.
In der nächsten Nacht träumt es nochmals von der zauberhaften Fee Manolina. Es hört ihre wohlklingende Stimme: „Geh in die Welt hinaus. Öffne dein Herz für das Gute. Auch wenn dein Herz Narben und Schmerzen hat. Dein Seelenkleid ist wie ein verlottertes Haus, es muss dringend renoviert werden! Doch das kannst nur du selbst tun!“
Am nächsten Morgen schämt sich das Krugelmonster noch mehr, weil es so hässlich ist. Doch die Reue kommt zu spät. Es ist seine eigene Schuld. Plötzlich meint es, ein Flüstern zu hören. Ein Schatten lacht spöttisch. Das Böse folgt ihm weiter. Doch gleichzeitig taucht das Gesicht der schönen Fee auf. Sie kommt zu Hilfe und strahlt das Gespenst wie mit einem Scheinwerfer an. Die bösen Augen des Widerlichen blitzen gefährlich auf, doch es verschwindet. Es kann das helle Licht der schönen Fee gar nicht ertragen. In seinem Reich herrscht nur Dunkelheit.
Zurück bleibt ein Abgrund von Leere, von Verzweiflung, aus dem sich das Monster herauszufinden versucht. Niedergeschlagen hängt es den ganzen Tag herum, immer auf der Hut, von niemandem gesehen zu werden.
Es ist schon am dämmern, als das Krugelmonster durch die Gassen einer schönen Stadt mit mittelalterlichem Kern schleicht. Viele kleine Gassen führen durch die nah zusammen gebauten Häuser. Oberhalb der Stadt thront eine alte mächtige Burg umgeben von einer dicken Burgmauer. Die Leute aus der Stadt sind stolz auf ihre alte Burg. Ritter Fürsten und Vögte haben hier gehaust. Die klotzigen Mauern könnten viele Geschichten erzählen.
Das Krugelmonster geht ein paar Stufen der alten, abgewetzten Burgtreppe hoch. Links an der Ecke bleibt es stehen schaut prüfend um sich, um ja ungesehen zu bleiben. Das Gelächter der jungen Leute klingt immer noch in seinen Ohren. Seine Blicke bleiben wieder an dem kleinen Laden hängen. Schon ein paar Mal stand es davor, getraute sich aber nicht hineinzugehen.
“Mirkos Zauberladen“ steht mit einer verschnörkelten Schrift angeschrieben. Es macht ein paar Schritte auf den Laden zu und betrachtet im Schaufenster voller Interesse die Auslage.
Doch die Auslage ist spärlich, ein paar Spielkarten, Jonglierartikel, Zauberseile, Bücher über Zaubertricks. In einem schwarzen Bilderrahmen steht: “Mirkos Zauberschule - hier kann man lernen zu zaubern“. Dieses Angebot interessiert das Krugelmonster sehr. Neugierig späht es durch das Fenster und sieht vor einem großen Buch sitzend, Mirko der Zauberer. Er hat lange dunkle Haare, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, einen Schnauz- und kleinen spitzen Kinnbart. Sein auffallend grünes Hemd verleiht ihm den Hauch von einem Magier.
Das Krugelmonster holt tief Luft, nimmt allen Mut zusammen und drückt auf die Türklinke.
Die schrille Glocke meldet den Kunden an. Mirko schaut von seinem Buch auf. Seine Mundwinkel zucken, als möchte er lautstark loslachen. Doch er hält sein Lachen krampfhaft zurück. Schließlich ist das Kugelmonster ein Kunde wie jeder andere auch. „Was kann ich für dich tun?“, fragt Mirko höflich. „So etwas Komisches von einem Kunden habe ich noch nie gesehen!“, denkt er.
„Ich möchte in die Zauberschule kommen, um die Kunst des Zauberers zu erlernen! Sieh mich an, wie hässlich ich bin. Ich muss unbedingt zaubern können, denn ich will nicht mehr das hässliche Krugelmonster sein, über das alle schallend lachen! Genauso geheimnisvoll wie du möchte ich aussehen!“
Mirko der Zauberer fühlt sich geschmeichelt, lacht und zeigt seine weißen Zähne. „Ich kann verstehen, dass du dich zu einem schöneren Wesen verzaubern möchtest. Leider kannst du die Verwandlung zu einem schönen Menschen nicht in meiner Zauberschule lernen. Hier lernt man zuerst die einfachen Tricks, zum Beispiel Kartenzauberei, Seiltricks und wie man Münzen verschwinden lässt. Die fortgeschrittenen Schüler lernen die Tricks der Täuschung, wie man etwas Größeres verschwinden lässt! Zum Beispiel ein Tier, eine Frau oder einen großen Gegenstand.“
Umso ausführlicher Mirko über seine Zauberkünste erzählt, umso größer wird die Enttäuschung des Krugelmonsters. Am liebsten würde es im Boden versinken und sich wie ein Wurm in der Erde verkriechen. Mirko bekommt Erbarmen bei dem verzweifelten Gesicht des Monsters. „Ich sehe, wie sehr du leidest! Eine Idee hätte ich noch. Vielleicht kann sie für dich nützlich sein. Die Bewohner der Stadt sagen, draußen im Wald, da lebt eine alte Kräuterfrau. Sie kennt jede Pflanze, jede Blume, jede Wurzel und weiß wie niemand sonst, wie man daraus Medizin machen kann. Vielleicht kann sie dir helfen und stellt für dich die passende Medizin zur Verschönerung her! Wie gesagt, eine Zauberei für dein Problem gibt es auf der ganzen Welt nicht!“
Das Krugelmonster bekommt wieder einen Funken Hoffnung und fragt nach dem genauen Weg. Mirko zuckt mit den Schul-tern. „Ich weiß den Weg nicht. Niemand kennt den Ort im Wald, wo die Kräuterfrau lebt. Gehe in den Wald, wenn du den Specht an den Baum klopfen hörst, dann kannst du deinen Wunsch in den Wald hineinrufen. Der Specht bringt dann deine Botschaft zur Kräuterfrau. Wird dein Wunsch erhört, wirst du, wie aus Geisterhand geführt, den Weg zur ihr finden. Will sie dich nicht empfangen, wirst du sie nie finden! Jetzt kann ich dir nur noch viel, viel Glück wünschen, dass die Kräuterfrau dich erhört.“
Das Krugelmonster bedankt sich überschwänglich. Als es den Zauberladen verlässt, hat es ein Strahlen der Hoffnung auf seinem Gesicht.
„Es ist zweifellos ein hässliches Wesen. Ich hoffe sehr, dass es von der Kräuterfrau erhört wird. Das wünsche ich ihm wirklich von ganzem Herzen!“, brummt der Zauberer Mirco vor sich hin.
Mit seinen übergroßen Füssen watschelt das Krugelmonster Richtung Wald. Es meidet die belebten Straßen und schleicht am Ufer eines trägen Flusses entlang. Es kommt auf einem schmalen Fußpfad, der ins Unüberschaubare verläuft. Hinter den tief herabhängenden Zweigen und den wuchernden Pflanzen kann es sich gut verstecken. Nach einer Weile sieht es weit entfernt zwei Reiter auftauchen. Es will nicht gesehen werden und verdrückt sich ins Gebüsch, bis sie vorüber sind. Dann ist wieder eine merkwürdige Stille da, nur ein leises Plätschern des Flusses ist hörbar. Sein Magen knurrt, den ganzen Tag hat es nichts gegessen. Doch nichts kann es von seinem Vorhaben, die Kräuterfrau zu finden, aufhalten. Immer tiefer läuft es in den unheimlichen, stockdunkeln Wald hinein.
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