Leseprobe "Wie ein weißes Blatt Papier"
von Hanne Sinn
Taschenbuch, 200 Seiten, 27 Kapitel, ISBN: 978-3-96050-27-8
Prolog
Moosbewachsene Hügel säumen die Landstraße. Der Himmel ist grau und das Wetter kühl und feucht. Es ist Herbst. Leichter Nieselregen fällt und benetzt Haut und Haar. Jolie rast auf ihrer hellblauen Schwalbe in Richtung Horizont. Der Wind schneidet ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie ist am Boden zerstört. Völlig rastlos und verzweifelt.
Etwas Ungeheuerliches ist geschehen. Etwas, das ihr Leben ins Wanken brachte und alles verändert hat.
Leise meldet sich der Schmerz. „Bleib fort! Komm nicht näher!“, versucht sie ihn abzuwehren.
Es ist wie eine Flucht vor der Wahrheit, wie das Verlangen zu vergessen und alles ungeschehen zu machen.
Doch die Straße ist leer. Keine Menschenseele ist zu sehen. Niemand, der sie aufhält oder ihr sagt, wie verrückt das Ganze ist. Jolie hat alles hinter sich gelassen und beschlossen, die Vergangenheit tief zu vergraben.
Die Erinnerung wird verblassen. Der Schmerz vergehen. Ganz bestimmt.
Während ihre Gedanken Kreise ziehen, bläst der Wind mit einer solchen Wucht in ihr Gesicht, dass ihre Augen zu tränen beginnen. Es ist, als befände sie sich eingeschlossen in einer unsichtbaren Hülle. Abgeschnitten von der Außenwelt. In sich gekehrt.
Die Welt wirkt bizarr. Sie ist ihr fremd geworden. Ein Riss durchzieht sie. Sehnsüchtig wandert ihr Blick zu den Hügeln. In Gedanken versunken, registriert sie erst viel zu spät den Lastwagen, der auf sie zurast, ihren Körper erfasst und sie zu Boden streckt. Schrecken durchfährt all ihre Glieder. Dann ist alles schwarz.
Kapitel 1
Pfeifen und Scheppern erfüllen die Luft. Fast menschenleere Zugabteile. Hellbraune Ledersitze, die alt und ranzig aussehen. Landschaft, die in raschem Tempo vorüberzieht. Über den Sitzen Ablageflächen. Ein Müllbehälter. Darüber ein Fenster, das von der morgendlichen Kälte eines Herbsttages beschlagen ist. Eine Modezeitschrift auf einem der Sitze. Knattern. Der Geruch nach alten Möbeln in der Nase.
Ein langsam werdender Zug, der schließlich hält. Schmale, mit Laub bedeckte Bahnsteige. Menschen steigen ein und aus. Mit einem Ruck öffnen und schließen sich die Türen. Gemächlich fährt der Zug weiter. Bäume, Pflanzen und Gräser werden immer schneller, bis sie zu grün-braunen Streifen werden. Ein Mädchen sitzt allein in einem der Abteile. Verträumt schaut sie sich um und reibt sich den Schlaf aus ihren Augen. Sie fühlt sich, als hätte sie eine Ewigkeit geschlafen, ohne zu wissen, wie sie an diesen Ort gelangt ist und was sie hier tut.
Während sie versucht sich zu erinnern, starrt sie wie gelähmt ins Leere und allmählich steigt Panik in ihr auf. Weshalb ist sie bloß in diesen Zug gestiegen? Wohin fährt er? Und wer ist sie überhaupt?
Im Fenster spiegelt sich ein Mädchen von etwa 16 Jahren. Braune, mittellange Haare umrahmen ihr Gesicht und fallen in sanften Wellen über ihre Schultern. Eine kleine Stupsnase. Dunkle Augen, die verängstigt dreinschauen. Ein zuckersüßer Mund, der staunend offensteht. Außer einem ledernen Geldbeutel scheint sie nichts bei sich zu haben. Neugierig und aufgeregt zugleich streichen ihre Finger über das dunkle, kühle Leder. Sacht öffnet sie ihn und lugt hinein. In diesem Moment beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Vielleicht verbirgt sich dort ein Pass oder so etwas? Etwas, auf dem ihr Name oder eine Adresse steht. Doch nichts dergleichen. Eine Fahrkarte, silberne Münzen und ein Foto. Mit zitternden Händen lässt sie die Münzen zurück in den Geldbeutel fallen und widmet sich zunächst der Fahrkarte. Darauf steht:
Preisstufe D, 22.09.2004, 7:45.
Als nächstes nimmt sie das Foto zur Hand. Es zeigt einen Mann mittleren Alters, der freundlich lächelnd in die Kamera sieht. Seine hellbraunen, grau melierten, lockigen Haare wehen im Wind. Im Hintergrund befindet sich eine Lichtung. Sonnenstrahlen fallen durch die Baumkronen und zieren den Waldboden mit Mustern. Der Mann scheint glücklich zu sein. Seine Augen strahlen und sein Lächeln ist groß.
Das Mädchen betrachtet wie gebannt das Foto. Jedes Detail und jede Besonderheit prägt sie sich ein. Doch auch nach längerem Betrachten erkennt sie den Mann nicht.
In gespannter Erwartung dreht sie das Foto. Buchstaben tauchen vor ihren Augen auf:
Pier van der Linden
Straat: Hendrik Jan van Heekplein 1a, Sneek
Und ganz unten am Rand steht: Für Jolie
Mit großen Augen starrt sie auf die Worte. Jolie? Ist sie damit gemeint? Wer ist dieser Mann?
Kopfschüttelnd schaut sie wieder aus dem Fenster und mustert ihr Spiegelbild. Wer ist das, verdammt nochmal? Wieso kann sie sich nicht erinnern?
Das alles muss ein Traum sein. Und ein verrückter noch dazu. Ein Mädchen sitzt mutterseelenallein in einem Zugabteil und weiß nicht, wer sie ist und wohin sie fährt. Das klingt so absurd, dass sie beinahe laut loslacht.
Das Foto wieder im Geldbeutel verstaut, lehnt sie sich zurück. Der Ledersitz ist alt, aber bequem. Ein paar Mal atmet sie bewusst tief ein und lässt die Luft langsam ihrem Mund entweichen. Ihre Hände streichen über die Sitze zu ihrer Rechten und Linken. Das Leder fühlt sich kalt und glatt an. Einige Löcher sind darin. Es ist so, als würden sie Geschichten erzählen.
Sie hält inne. Für einen Traum ist das alles ziemlich real. Was ist, wenn sie sich wirklich nicht erinnern kann? Der Kloß in ihrem Hals wird größer und die Angst liegt wie ein Stein auf ihrem Herzen. Was soll sie bloß tun und wie soll es weitergehen? Fragen über Fragen.
Vielleicht kann der Mann auf dem Foto ihr weiterhelfen. Vielleicht weiß er, wer sie ist.
Wieder sieht das Mädchen aus dem Fenster, so als sei dort zwischen Bäumen und Büschen die Antwort verborgen.
Gerade als sie beschließt, die Adresse ausfindig zu machen und nach dem Mann zu fragen, öffnet sich plötzlich die Abteiltür und eine Dame tritt ein.
„Ist hier noch frei?“, fragt sie und deutet auf einen der Sitze auf der gegenüberliegenden Seite.
Aus den Gedanken gerissen, bringt das Mädchen kein Wort heraus und nickt nur.
Die Dame lächelt und lässt sich in den Sitz fallen. Genüsslich schließt sie die Augen und atmet tief ein, so als käme sie von einem erfolgreichen, aber anstrengenden Meeting. Das Mädchen betrachtet sie einen Moment lächelnd und schaut dann wieder aus dem Fenster. Plötzlich kullern unkontrolliert Tränen über ihr Gesicht. Verstohlen wischt sie sie weg und versucht sich nichts anmerken zu lassen. Doch die Dame hat sie bereits erahnt.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Geht es Ihnen gut?“, fragt sie nach einer Weile.
Das Mädchen schaut auf. „Danke, es geht schon.“
Ihre Stimme klingt dünn und nicht sehr überzeugend. Die Dame lächelt und betretenes Schweigen macht sich breit. Spannung liegt in der Luft.
Während das Mädchen immer noch mit den Tränen kämpft, kommt ihr plötzlich ein Gedanke:
„Wissen Sie ob dieser Zug nach Sneek fährt?“
Die Dame überlegt einen Moment.
„Ja, ich meine, ich wäre schon einmal daran vorbeigefahren. Es müsste nicht mehr lange dauern.“
Das Mädchen atmet erleichtert aus. „Vielen Dank.“
Mit einem Mal verspürt sie neuen Mut und sie ist sich sicher, sobald sie die Adresse gefunden hat, wird sich alles aufklären.
Mittlerweile sind schon etliche Orte, deren Namen sie nie gehört hat, an ihnen vorbeigezogen und sie hat Mühe, nicht einzuschlafen. Auf der Armbanduhr der Dame ist es zwölf. Also ist sie schon seit mindestens vier Stunden unterwegs. Vier geschlagene Stunden in diesem verdammten Zug!
Das Geräusch eines Mobiltelefons reißt sie aus ihren Gedanken. Die Dame fährt zusammen und ihre zarten Hände fischen hektisch ein schwarzes Klapphandy aus der Seitentasche ihres grau-silbernen Koffers, der neben ihr steht.
„Miss Batlló, was kann ich für Sie tun? … Oh, Mister Roxen, sehr erfreut, von Ihnen zu hören.“ Ein Strahlen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. „Gerne können wir einen Termin vereinbaren. Nächste Woche Montag um neun, ist Ihnen das recht?“
Ihr Blick streift das Mädchen, wendet ihn jedoch schnell wieder ab.
„Nichts zu danken, ich berate Sie gern und schätze Sie ebenfalls sehr. Also bis dahin! Auf Wiedersehen!“ Mit einem Lächeln klappt sie das Handy zu und verstaut es wieder in der Seitentasche des Koffers.
„Geschäfte, Geschäfte“, sagt sie und lacht.
Das Mädchen erwidert ihr Lächeln und schweigt. Verlegen schaut sie zu Boden und versucht zu verdrängen, dass sie keinen blassen Schimmer hat, wer sie ist und woher sie kommt. Hoffentlich fragt sie niemand danach. Was soll sie dann antworten? Dass sie vergessen hat, wer sie ist? Dann wird man sie für verrückt erklären und in die Klapsmühle stecken. Nein, sie sollte gewappnet sein und sich vorher eine Geschichte zurechtlegen.
Nach einigem Hin und Her entscheidet sie sich schließlich dafür, sich von nun an Jolie zu nennen, so wie es auf dem Foto geschrieben steht. Sie ist 16 Jahre alt, wohnt mit ihren beiden Schwestern bei ihren Eltern und geht derzeit noch zur Schule. Im Augenblick sind Ferien und sie besucht ihren Onkel in Sneek. Ihre Lieblingsfächer sind Mathematik und Gesellschaftslehre. Ihre Lieblingsfarbe ist Blau und Pizza Hawaii ihr Leibgericht …
Das müsste genügen, beschließt sie und seufzt.
Die Dame ist inzwischen eingeschlafen. Sie sieht erschöpft, aber zufrieden aus. So, als wenn man nach langer und disziplinierter Arbeit sein Ziel erreicht hat und im Einklang mit sich und der Welt zu Bett geht, um sich am nächsten Tag neuen Herausforderungen zu stellen. Jolie bewundert die Stärke und Grazie dieser Frau. Sie ist jemand, der den Raum ausfüllt, ohne etwas dafür tun zu müssen, der Menschen für sich begeistern kann, ohne es selbst zu bemerken. Jemand, der in Erinnerung bleibt.
Jolies Blick schweift zum Fenster. Rasch zieht die Landschaft vorüber. Wälder, orangefarbene Blätter im Wind, Vögel, die in Schwärmen über den Himmel ziehen, Wolkenbilder, Felder und Wiesen.
Plötzlich entdeckt Jolie Rehe am Waldrand. Sie stehen dicht, jederzeit bereit zu fliehen. Ein kurzer Blick und schon hat der Zug sie hinter sich gelassen. Er ist schnell. Er schert sich nicht darum, was um ihn herum geschieht. Er hat sein Ziel und kehrt niemals um. Egal, wie schnell er fährt, irgendwann kommt er an. Ferne Länder durchquert er. Städte, Dörfer, Wälder, Seen und Flüsse, Berge und Täler begegnen ihm. Seine Türen öffnen sich für jedermann. Leute kommen und gehen. Unterschiedlich wie Tag und Nacht. Nur seine Linie bleibt ihm treu.
Jolie schaut gedankenverloren aus dem Fenster und lässt sich treiben. Plötzlich ertönt eine schroffe Männerstimme aus dem Lautsprecher: „Nächster Halt Sneek. Ausstieg in Fahrtrichtung links.“
Ein wenig beunruhigt, im Grunde jedoch zuversichtlich, erhebt sie sich und versucht nicht allzu fest aufzutreten, um die Dame nicht aus ihrem Schlaf zu reißen. Bevor sie das Abteil verlässt, wirft sie ihr einen letzten Blick zu und wünscht ihr im Stillen alles Gute.
Dann tritt sie auf den leeren Gang hinaus. Erblühenden Mutes geht sie durch eine Tür und hält sich an einer Metallstange fest. Braun-rot gefärbte Bäume und Büsche nehmen langsam Gestalt an und ein Bahnsteig kommt in Sicht. Jolie betrachtet neugierig die Szenerie. Aufregung und Abenteuerlust packen sie.
Als der Zug endgültig zum Stehen kommt, greift sie nach dem Hebel, der an der Tür angebracht ist, und öffnet sie mit einem Ruck. Zwei Stufen und schon steht sie auf dem Bahnsteig. Weit und breit ist niemand zu sehen. Hinter ein paar Bäumen tauchen Felder und Häuser auf und zu ihrer Rechten ein kleiner Pfad, der ins Unbekannte führt. Als sie näherkommt, entdeckt Jolie ein Schild: Sneek. Dort muss es sein.
Mit klopfendem Herzen macht sie sich auf den Weg und folgt dem Pfad. Einem Pfad wie jeder andere und doch ist er besonders. Wohin er sie führen wird, ist ungewiss. Was er im Schilde führt und wie weit er reicht, nicht klar. Ein Pfad, auf dem schon viele gegangen sind. Groß und Klein, fest oder behutsam, rasch oder gemächlich.
Nun steht Jolie da, innehaltend. Sieht sich um, nimmt wahr, was sie umgibt. Alles auf ihre ganz eigene Weise.
Es ist ein Pfad, auf dem sie Spuren hinterlässt und der zu ihrem geworden ist. Was hält er wohl bereit? Was schlummert dort und will gesehen werden?
Mit aufmerksamem Blick setzt sie ihren Weg fort. Und schon bald ist ihre Gestalt kaum noch zu sehen. Nur noch Umrisse, die nicht mehr erkennen lassen, wer dort geht. Schließlich verschwindet sie in der Ferne. Die Zukunft in ihren Händen.
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