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    Leseprobe "Die verschwundene Welt des James Barkley"

von Uwe Woitzig

Taschenbuch, 245 Seiten, ISBN: 978-3-945509-37-1

Inhaltsverzeichnis

27.12., 16:15 Uhr GMT, Oxford, England
27.12., 17:45 Uhr GMT, Hotel Dorchester, London, England
27.12., 18:30 Uhr GMT,  Abadan, Iran
27.12., 19:45 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
28.12., 20:05 Uhr GMT, Kanpur, Indien
29.12., 14:20 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
29.12., 14:35 Uhr GMT, Oberstdorf, Deutschland
29.12., 18:00 Uhr GMT, Ethar
30.12., 08:30 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
30.12., 09:55 Uhr GMT, Bir Nabal, Israel
30.12., 16:20 Uhr EST, Flushing Meadows, New York
31.12., 08:45 Uhr GMT, Hans Place, London
31.12., 10:00 Uhr GMT, Edinburgh, Schottland
31.12., 10:15 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
31.12., 10:30 Uhr GMT, Princess Street, Edinburgh
31.12., 13:55 Uhr GMT, Edinburgh, Schottland
31.12., 14:15 Uhr GMT, Oxford, England
31.12., 18:00 Uhr GMT, Edinburgh, Loge des Northern Cross
31.12., 20:20 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
31.12., 21:55 Uhr GMT, Guantanamo, Kuba
31.12., 22:05 Uhr GMT, Edinburgh, Loge des Northern Cross
31.12., 22:25 Uhr GMT, Oxford, England
01.01., 00:20 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
01.01., 00:25 Uhr GMT, Trafalgar Square, London
01.01., 01:00 Uhr GMT, Diamantenhöhle
01.01., 03:30 Uhr GMT, Hans Place, London
01.01., 06:00 Uhr GMT, Saint Thomas Hospital, London
01.01., 08:20 Uhr GMT, Hans Place, London
01.01., 09:15 Uhr GMT, Saint Thomas Hospital, London
01.01., 03:00 Uhr EST, Washington DC, USA
01.01., 03:30 Uhr GMT, Diamantenhöhle
01.01., 03:05 Uhr EST, Washington DC
01.01., 04:30 Uhr EST, New York
01.01., 10:00 Uhr GMT, Saint Thomas Hospital, London
01.01., 10:06 Uhr GMT, Mingary Castle, Schottland
01.01., 10:55 Uhr GMT, Ethar
01.01., 10:00 Uhr EST, New York
01.01., 16:30 Uhr GMT, New Scotland Yard, London
01.01., 10:30 Uhr EST, New York
01.01., 16:30 Uhr GMT, New Scotland Yard, London
01.01., 19:00 Uhr GMT, St. Thomas Hospital, London
01.01., 14:30 Uhr EST, New York
01.01., 20:12 Uhr GMT, London
01.01., 23:50 Uhr GMT, Epidaurus
03.01., 01:00 Uhr GMT, Diamantenhöhle
03.01., 11:00 Uhr GMT, Oxford

27.12., 16:15 Uhr GMT, Oxford, England

Professor James C. Barkley, der Dekan der philosophischen Fakultät der Universität von Oxford, blickte aus dem Fenster des mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmers seines viktorianischen Landhauses, das er von seinem Vater geerbt und nach seinen Vorstellungen umgebaut hatte. In dem weitläufigen Park, der das Haus umgab, hatten sich zu seiner Freude mehrere Rudel Rotwild und zahllose Hasen und Kaninchen angesiedelt, die ohne Scheu direkt vor den Fenstern des Hauses ästen und unbeschwert auf den mit Raureif bedeckten Wiesen herumtollten. Eine fahle Wintersonne beschien die geschwungene Hügellandschaft der Cotswolds, in die der Park überging und die das herrschaftliche Anwesen vom Rest der Welt trennte. Der Professor hatte keine Ahnung, dass es das letzte Mal sein würde, dass er diesen Ausblick genießen konnte. Auf seinem Schreibtisch lag der Harry-Potter-Band IV, „Der Feuerkelch“, den seine Frau Karen ihm zu Weihnachten geschenkt und den er gerade fertig gelesen hatte. „Portkey“, dachte er, „wie kommt Rowling auf diesen Begriff? Was weiß sie tatsächlich über Zeit- und Astralreisen?“

Nachdenklich betrachtete er sein sich im Fenster spiegelndes Ebenbild. Was er sah, gefiel ihm. Er war ein Mann mit dem gewissen Etwas. Vom Scheitel des von ersten grauen Fäden durchzogenen, makellos frisierten und trotz seiner 48 Jahre immer noch vollen, blonden Haares bis zu den Schuhkappen der dunkelbraunen Alden-Schuhe, die jenen unauslöschlichen Glanz aufwiesen, den das Pferdeleder nur nach jahrelangem unermüdlichem Polieren bekommt, strahlte er die unbekümmerte Sorglosigkeit eines englischen Landadeligen aus. Um die Schultern hatte er sich lässig eine dunkelbraune Kaschmirjacke geschlungen. Zu seiner maßgeschneiderten, lohfarbenen Cordhose aus der Savile Row, deren Preis Karen, die in Edinburgh geboren war, einen Schrei des Entsetzens entlockt hätte, wenn er ihn ihr gesagt hätte, trug er ein Seidenhemd in der Farbe geronnener Milch, das seinen leicht gebräunten Teint bestens zur Geltung brachte. Dezent klingelte sein Haustelefon mit der Melodie von Smetanas „Die Moldau“. Er nahm den Hörer ab.

„James, der Tee ist fertig, kommst du in die Küche?“, fragte ihn Karen. Wie immer amüsierte ihn ihr schottischer Akzent und er lächelte.

„Danke, Darling, ich bin schon unterwegs.“

Er schwang seinen durchtrainierten Körper aus dem Sessel und durchquerte sein Zimmer. Als er die Kassettentür öffnen wollte, vernahm er ein Geräusch aus der Zimmerecke, in der sein Fernseher stand. Verwundert drehte er sich um.

Der Fernseher hatte sich von selbst eingeschaltet und zeigte Bilder von James merkwürdig vertrauten Gebäuden. Sie bildeten das mittelalterliche Zentrum einer modernen Stadt, ähnlich wie in Oxford, aber doch anders. Die Straßen waren etwa doppelt so breit. Die Fahrzeuge auf ihnen sahen aus wie Kutschen ohne Pferde, wirkten riesig und fuhren extrem langsam. James sah, dass in einigen acht Personen bequem nebeneinander saßen. In anderen befand sich nur ein Fahrer, der sich in einem flauschigen Wohnzimmersessel lümmelte und seine Kalesche mit einem Joystick lenkte. Die Kamera flog zwischen den Türmen einer Kathedrale hindurch und fokussierte ein schlossähnliches Gebäude, vor dem eine kleine Figur stand, die von einer weißen Lichthülle umgeben war und mit beiden Armen winkte. Die Figur wurde herangezoomt. James erkannte einen untersetzten Mann, der um die Hüften einen Lendenschurz aus dunkelbraunem Leder trug, an dem mit einem Riemenfutteral ein Kurzschwert befestigt war. Sein narbenbedeckter Oberkörper war zur Hälfte mit einer weißen, ärmellosen Tunika bedeckt, die seine muskelbepackten Oberarme unverhüllt ließ. Der Zoom wurde stärker und das Gesicht des Mannes erkennbar. Ein gekräuselter Bart und ein dichter Haarschopf mit langen, grauen Locken umrahmten die grimmigen Züge eines etwa Fünfzigjährigen, der James mit seinen braunen Augen intensiv ansah. James meinte, das Gesicht schon einmal gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wann und wo. Gebannt und wie hypnotisiert starrte er auf den Bildschirm.

„Hi, James, da bin ich. Willkommen zu meiner Party“, vernahm er eine spöttische Stimme aus dem Fernseher, zu seinem Erstaunen in perfektem Englisch. Der Sprecher hob langsam seine linke Hand und wies mit seinem Zeigefinger auf James´ Stirn. Ein kaltes Grauen durchfuhr ihn und ließ ihn frösteln. Der Fernseher implodierte. Glasscherben und Elektronikteile flogen in alle Richtungen und zersplitterten auf dem Parkettboden seines Arbeitszimmers. Ein weißer Lichtstrahl raste auf ihn zu und traf ihn genau zwischen den Augen. James taumelte und fühlte, wie seine Beine plötzlich taub wurden, ihren Dienst versagten und einknickten. Ohne sich abfangen zu können, fiel er mit einem dumpfen, aber in der Stille des Hauses gut vernehmbaren Schlag auf den weichen Teppichboden seines Arbeitszimmers. Das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war das besorgte Gesicht Karens, die ins Zimmer stürzte. Dann wurde es Nacht um ihn.

„James, James, James, bitte komm zu dir.“

Karens besorgte Stimme rief ihn ins Bewusstsein zurück. Müde und misstrauisch öffnete er die Augen. Durch einen weißen Schleier sah er ihr fein geschnittenes Gesicht dicht vor seinem. Er blickte in ihre sorgenvollen, blauen Augen und fühlte ihre langen, roten Haare sanft seine Wangen streicheln. Sein Blick wurde klarer, aber er konnte sich nicht erinnern, was ihm passiert war. Trotz seiner Benommenheit fiel ihm auf, dass Karen neben ihm auf einem Handtuch kniete, das sie über Glasscherben und Elektronikteilchen gebreitet hatte, die er überall im Zimmer verstreut sah. Da fiel es ihm wieder ein: Der Fernseher war implodiert und …

„Honey, alles wieder okay?“

„Ja, Darling, alles wieder ...“

Weiter kam er nicht. Ein gewaltiger Schmerz raste durch seinen Körper und lähmte seine Zunge. Gleichzeitig vernahm er wieder die spöttische Stimme. Doch diesmal war sie direkt in seinem Kopf.

„Es ist wirklich alles okay, Jamesyboy. Ich habe die Kontrolle übernommen. Von jetzt an bist du meine Marionette. Ich ziehe die Strippen und du bewegst dich. Wenn du dich weigerst, geschieht dies.“

Erneut durchfuhr ein brutaler Schmerz seinen Körper, schoss dreimal von seinem Scheitel zu den kleinen Zehen – und löste sich auf.

„Das macht Spaß“, hörte er die heiser kichernde Stimme zwischen seinen Ohren. „Ich amüsiere mich sehr. Aber genug gespielt, wir haben eine Menge zu tun. Steh auf, geh zu deinem Fahrzeug und warte auf meine Befehle. Ich rate dir, deiner Frau nichts von mir zu erzählen. Sonst wirst du es bedauern.“

„Bitte, kommen Sie schnell, er ist schon wieder bewusstlos geworden.“

Karen telefonierte offensichtlich mit einem Notdienst.

„Nein, lass es“, stöhnte er. „Ich bin wirklich wieder okay. Schau her!“

Tatsächlich gelang es ihm, auf seine Füße zu springen.

„Siehst du, ich bin wieder fit und brauche keinen Notarzt. War wohl nur ein Schwächeanfall wegen Jetlag oder so. Außerdem habe ich in 20 Minuten eine wichtige Besprechung mit Professor Dean Marble im Keble College. Ich kann ihn nicht warten lassen“, log er.

Zweifelnd sah Karen ihn an, immer noch den Telefonhörer ans Ohr gepresst.

„Moment bitte“, sagte sie zu ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, „meinem Mann scheint es wieder besser zu gehen. Er steht vor mir, sprechen Sie bitte selbst mit ihm.“

Sie reichte James den Hörer.

„Hallo, hier James Barkley. Ja, danke, mir geht es wieder gut. Nur ein leichter Schwächeanfall. Nein, ich habe keine Gliederschmerzen und sehe auch alles ganz klar. Gut, ich werde morgen sofort zu meinem Hausarzt gehen, das verspreche ich.“

„Du bist ein raffinierter Geschichtenerzähler“, vernahm er die heisere Stimme in seinem Kopf. „Ich werde auf der Hut sein müssen, das steht fest.“

Verwirrt und geistesabwesend umarmte James Karen, die ihn überrascht ansah, weil er sie schon monatelang nicht mehr berührt hatte.

„Überanstreng dich nicht und komme bald zurück“, erwiderte sie und er spürte ihre aufrichtige Besorgnis.

„Ja, Darling, das verspreche ich dir.“

James hatte keine Ahnung, wie sehr er sich irren sollte.

Schnell verließ er das Haus und stieg in seinen dunkelgrünen Jaguar Daimler. Kaum war die Fahrertür mit einem satten Geräusch ins Schloss gefallen, schrie er laut los:

„Wer bist du? Und was willst du von mir?“

„Cool down, James, cool down. Du musst nicht schreien. Ich kann deine Gedanken lesen, also denke einfach, was du mir sagen willst. Ich verstehe dich dann sehr gut. Zur Klarstellung: Du hast keine Halluzinationen und bist auch nicht schizophren geworden. Mich gibt es wirklich und ich bin seit ein paar Minuten in dir. Ich habe mich an deinen zentralen Rhythmusgenerator angedockt und die Kontrolle über deinen Bewegungsapparat übernommen. Ach ja, in deinen ventromedialen Cortex habe ich mich auch eingenistet.“

„Was ist das denn?“, fragte James verblüfft und seine Gedanken rasten.

„Ich weiß, dass dir gerade jede Menge Fragen durch den Kopf schießen. Die werde ich vielleicht später beantworten. Jetzt musst du nur wissen, dass ich deinen Körper brauche, um einige Aufgaben zu erledigen, die für uns beide sehr bedeutsam sind. Und nebenbei wirst du sehr viel lernen, das verspreche ich dir. Oh, ich fühle einen leichten Zweifel in dir. Nein, du bist nicht verrückt geworden. Vielleicht brauchst du eine kleine Demonstration, damit du mir glaubst: Heb doch mal deine rechte Hand und berühre deine Nase.“

James versuchte, seine rechte Hand zu heben. Sie rührte sich nicht.

„Glaubst du mir jetzt, James?“, fragte die Stimme in seinem Kopf.

„Ja, es ist verrückt, aber ich glaube dir. Darf ich meine Hand wieder bewegen?“

Ein heiseres Lachen ertönte.

„Selbstverständlich, James, ich werde nur sporadisch die Kontrolle über deinen Körper übernehmen. Und ich werde es dir jedes Mal vorher ankündigen, damit du genug Zeit hast, dich darauf einzustellen und deine Bewegung beenden kannst. Ich bin dein Freund und will dich nicht verletzen. Vertraue mir und befolge meine Anweisungen. Du wirst allmählich verstehen.“

„Was ist, wenn ich mich weigere? Bringst du mich dann um?“

„Das wäre kontraproduktiv. Es ist auch gar nicht notwendig, denn ich kenne deine Schmerzgrenze. Vergiss nicht, ich kann deine Gedanken lesen und der Schmerz, den du am meisten fürchtest, ist genau an dieser Stelle, nicht wahr?“

James spürte ein leichtes Vibrieren in seinen Hoden, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Er erinnerte sich an die verheerenden Folgen eines mit Wucht geschossenen Balles beim Fußballspielen, der ihn genau dort getroffen hatte.

„Keine Sorge, das war nur eine kleine Demonstration. Ich zeig dir noch etwas.“

James linker Arm fuhr senkrecht in die Höhe, knickte ab. Seine Hand ballte sich zur Faust und raste mit aller Kraft auf seine Nase zu. Entsetzt schloss er die Augen, erwartete den fürchterlichen Hieb und den rasenden Schmerz des gebrochenen Nasenbeins. Doch nichts geschah. Verwundert öffnete er die Augen.

Seine Faust hing einen Millimeter vor seiner Nasenspitze in der Luft, öffnete sich langsam und sank dann sanft auf seinen linken Oberschenkel.

James fühlte, wie er zu hyperventilieren begann und versuchte, die hochsteigende Panik niederzukämpfen. Er konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte er sich wieder gefasst und fragte:

„Wie machst du das?“

Nur ein heiseres Lachen ertönte als Antwort.

„Also gut, dann sag mir wenigstens, wie ich dich anreden soll. Wie heißt du?“

Wieder vernahm er das heisere Lachen.

„Nenne mich Cupido. Das ist der, der immer seine Zwillingsseele-Psyche suchte. Wieso? Vielleicht werde ich es dir eines Tages erklären. Aber jetzt, mein Freund, habe ich dafür keine Zeit mehr. Auf uns wartet unser erster Termin in London. Unser Ziel ist das Hotel Dorchester. Setz dieses Fahrzeug in Bewegung und bringe uns schnellstens dorthin.“

Kurz darauf fuhr James schweigend auf die M40 Richtung London. Seine Gedanken überschlugen sich. Waren es überhaupt seine Gedanken? Woher sollte er wissen, welche von ihm selbst waren und welche ihm von Cupido eingespeist wurden? Woran konnte er den Unterschied erkennen? Gab es überhaupt einen? Da er keine ihn befriedigenden Antworten auf seine Fragen finden konnte, gab er schließlich auf und beschloss, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Er schaltete das Radio ein. Dvořáks „Schöne neue Welt“ ertönte aus der perfekt eingestellten Bose-Anlage des Jaguars. James fragte sich, ob die Musik ein Zeichen für ihn war.

Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass sie an der ihm vertrauten Ausfahrt von High Wycombe vorbeifuhren. Was war ihm jetzt noch vertraut? Musste er nicht sein gesamtes Weltbild in Frage stellen, weil die Gedanken von Cupido es jederzeit manipulieren konnten? Worauf konnte er sich jetzt noch verlassen? Die Vorstellung, dass alles, was er meinte, sich angeeignet und erkannt zu haben, plötzlich von einem ihm unbekannten Wesen beliebig variiert werden konnte, ließ ihn verzweifeln. Er fühlte sich erbärmlich, weil er hilflos einem ihm völlig Unbekannten ausgeliefert war. Außerdem hatte er das Gefühl, dass seine Gedanken merkwürdig verlangsamt waren, so als würde ein Flugzeug mit einem Fallschirm abgebremst werden. Ein belustigtes Räuspern in seinem Kopf unterbrach seinen Gedankenstrom.

„Kannst du mir nicht wenigsten erklären, warum du ausgerechnet mich ausgesucht hast?“, fragte er verzweifelt.

„Also gut, ich werde dich ein wenig aufklären. Weißt du, was eine Larve auf der geistigen Ebene ist, James?“

„Nein, nicht wirklich.“

Cupido seufzte.

„Larven sind Wesenheiten, die sich unwillkürlich durch starke psychische Erregung, ganz gleich welcher Art, auf der Mentalebene von selbst bilden, James, und zwar durch sehr starke Gedanken, die durch Emotionen wie Hass oder Furcht ausgelöst wurden. Ist eine Larve sehr stark verdichtet, hat sie immer mehr Selbsterhaltungstrieb und trachtet danach, ihre Lebensdauer so viel wie nur möglich zu verlängern. Sie stachelt daher bei jeder Gelegenheit den Verstand des betreffenden Menschen an, um seine Aufmerksamkeit auf die Ursache der Erregung zurückzuführen und sie neu zu beleben. Und bei diesem Silvesterball auf der Queen Mary warst du verrückt vor Eifersucht und Hass, erinnerst du dich?“

James erinnerte sich. An alles.

Karen hatte sich ihr schulterfreies, schwarzes Dior-Kleid angezogen. Ihre langen, roten Haare ergossen sich auf ihre nackten Schultern und umrahmten ihre vollen Brüste, die bei jedem Schritt aus ihrem eng anliegenden Kleid zu hüpfen drohten. Jeder Mann im Saal hatte sie lüstern fixiert, als sie an James´ Seite den Ballsaal betreten hatte. Ihre sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem lasziven Lächeln, als sie die Blicke von Hiram und Fiona, dem jungen, englischen Pärchen, das sie am Vorabend beim Dinner kennengelernt hatten, auf sich fühlte. James war stolz gewesen, eine derart auffällige Schönheit seine Frau nennen zu dürfen.

Doch als sie zum x-ten Mal von einem Mann zum Tanzen aufgefordert wurde, wich der Stolz einem Gefühl der Ohnmacht. Vor allem Hiram, der ein erfolgreicher Tennisprofi war und blendend aussah, tanzte unaufhörlich mit Karen, die es sehr genoss, sich katzenhaft an seinen austrainierten Körper zu schmiegen.

„Ein schönes Paar, die beiden.“

Fionas rauchige Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Wollen Sie mit mir tanzen, James?“

„Momentan nicht, danke. Ich warte auf Karen.“

„Das tue ich auch“, hatte Fiona erwidert. Und in der Tat, als Hiram sie an ihren Tisch zurückbrachte, hatte Fiona Karen aufgefordert, die sofort mitging. Der nächste Song war „Nights in white satin“. James hatte, rasend vor Zorn, beobachtet, wie Fionas Körper sich an Karen schmiegte und ihre Hand Karens wohlgeformte Pobacken streichelte.

Um Mitternacht ging das Licht aus und wieder an. Die Band intonierte „Auld Lang Syne“. Jeder stand auf, fasste seinen Nachbarn an der Hand und sang, je nach Trunkenheitsgrad, laut und falsch mit.

James schenkte sich den letzten Rest Whisky aus seiner zweiten Flasche Scotch ein und schaute sich suchend nach Karen um. Er wurde stocknüchtern. Karen, Hiram und Fiona waren verschwunden.

Eine nie gekannte Wut hatte ihn erfasst. Er trank sein Glas auf ex, verabschiedete sich von seinen Tischnachbarn und ging an Deck. Dort starrte er gedankenverloren in den sternenklaren Himmel und ließ sich die kalte Meeresluft um die Nase wehen, ohne dass sein Hass auf Karen sich spürbar verringerte.

+++ +++ +++

Textprobe: Uwe Woitzig

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