Leseprobe "Lebensgeflüster"
von Andi LaPatt
Taschenbuch, 380 Seiten, ISBN: 978-396050-081-0
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Der Grabstein
2. Der Mitarbeiter im Mittelpunkt
3. Vertrau mir nicht
4. Wurzeln schlagen
5. Was geht das mich an
6. Ich weiß, dass ich nichts weiß
7. Von Fröschen und Hammeln
8. Die richtigen Fragen stellen
9. Das Produkt ist „eigentlich“ unwichtig
10. Irrtümer / Projektionen
11. Artgerechte Haltung des Menschen
12. Die Kunst der Einfachheit
13. Problematisch wird’s, wenn du nichts hast
14. Alles eine Frage der Energie
15. Wertschätzung kommt von Werten
16. Die wertvollsten zwei Währungen
17. Falsche Bescheidenheit
18. Verkaufst du schon, oder bettelst du noch?
19. Erste Wahl – deine Wahl
20. Seelenlosigkeit
21. Ein Engel im Himmel fällt niemandem auf
22. Das Neue braucht Freunde
23. Systemik – deine Energie verändert alles
24: Der Blickwinkel verändert alles
25. Der Ruf
26. Menschen, die die gleiche Vision haben
Vorwort
In einer nicht enden wollenden Flut an Informationen, Reizen von außen, Stürmen im Innern und dem Verlust an Menschlichkeit in der Arbeitswelt, die mehr als die Hälfte unserer Zeit, ja, unseres gesamten Seins ausmacht, fehlt es uns immer mehr an echtem Leben und wahrhaftigen Inhalten. Die Tage sind vollgestopft mit Terminen. Berufe und Weiterbildungen werden nach monetären Faktoren ausgewählt. Denn die heutige Zeit besteht aus der Wechselwirkung der materiellen Güter. Dies lässt uns glauben, dass viel auch viel bewirkt. Unsere Sehnsüchte und Talente bleiben dabei oft auf der Strecke. Wir glauben, Privatleben und Arbeit trennen zu müssen, und bemerken nicht, welche Lüge wir kultiviert haben. Facebook-Chroniken und andere soziale Netzwerke sind von guten Zitaten überfüllt, die im Leben aber oft ungehört und ungelebt bleiben. Jeden Tag tauchen weitere gute Methoden sowie neue Philosophien auf, die altes Gut frisch verpackt für viel Geld verkaufen. Und doch nützen sie wenig, denn die Welt leidet an der geistigen Verstopfung der Menschen, die trotz der vielen guten Hilfsmittel nicht in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen.
Wir glauben der Lüge, immer weniger Zeit zu haben, obwohl jeder von uns mit jedem neuen Tag 24 Stunden geschenkt bekommt. Randvolle Terminkalender und der Glaube, jede Rolle bekleiden zu müssen, machen uns nur zu Sklaven von unfähigen Führungskräften, die alle denselben Zeitfressern und leeren Theorien der Neuzeit aufsitzen. Unsere Leben sind hohl geworden, auch wenn wir randvoll mit Theorien, neuen Hobbys, hippen Kleidern, Luxusgütern, den angesagtesten Sportarten sowie Aus- und Weiterbildungen sind. Daraus resultieren Titel, Zertifikate oder die Position auf einer Rangliste, die uns glauben lassen, endlich zu wissen, wer wir sind. Immer mehr Krankheiten ziehen Menschen aus diesem unnatürlichen und rein wirtschaftlich orientierten Chaos. Immer mehr Coaches und Berater schießen wie Pilze aus dem Boden. Ein Überangebot an Informationen und Ratgebern hilft dennoch nicht, den eigenen Wert zu erkennen und das Geschenk Leben auch als solches zu zelebrieren.
Das ist der Grund für mich, dieses Buch sehr polarisierend zu schreiben, denn in den über 20 Jahren meiner Angestelltenlaufbahn wurde mir nur schleichend bewusst, welchen Schaden meine Seele und mein Herz durch den Druck und das Ausgeliefertsein in dieser Rolle wirklich davongetragen haben.
Ich lade Sie auf eine Reise in die Menschlichkeit ein. Dieses Buch soll den Hunger und die Liebe auf das Leben und Ihre Gabe wieder wecken. Die Geschichte soll Sie verwirren und zum Nachdenken anregen, es soll etwas ver-rücken in Ihnen, denn ich bin überzeugt, dass nur noch ver-rückte Ansichten helfen können, uns selber in uns wiederzufinden. Dabei geht es mir keineswegs darum, dass Sie mir in Allem beipflichten. Es geht mir vielmehr darum, etwas in Ihnen, das sich nach Ihrer Aufmerksamkeit sehnt, aufzudecken und (wieder) zum Leben zu erwecken.
Die Dialoge der Menschen in diesem Buch sind frei erfunden, ebenso wie die Menschen und das Unternehmen selber. Aber viele Menschen, die mich begleitet haben und zum Teil noch immer begleiten, haben mich inspiriert und zu vielen dieser Gespräche angeregt. Einige davon waren mir gute Lehrer, denen ich nicht mehr unbedingt begegnen möchte, und andere waren meine Meister und sind es noch. Doch alle Erfahrungen, seien sie auch noch so schmerzhaft gewesen, waren Teil meines Weges, um aus mir den Menschen zu machen, der ich heute bin.
1. Der Grabstein
„Mit Ihrem Lebenslauf werden Sie es schwer haben“, erklärte mir ein Personalvermittler unlängst. Die Arroganz des Typen und seine unnatürlich übercoole Art - gepaart mit Designerjeans und Boss-Hemd - ging mir mächtig auf die Nerven. Aber was hatte ich schon für eine Wahl? Schließlich war ich in den letzten Jahren zweimal gekündigt worden, einmal aufgrund einer Firmenfusion und einmal, weil es nach einem Zusammenschluss keinen Platz mehr für mich gegeben hatte. Beste Arbeitszeugnisse wiesen aus, dass ich Opfer der Wirtschaftskrise geworden war - wie so viele andere auch. So war das eben: Mein Lebenslauf sah scheiße aus. Ich wusste das. Die „netten“ Worte dieses Menschenhändlers machten das nicht besser. Unterstützung bei der Stellensuche hatte ich jedoch anders im Gedächtnis. Unzählige Bewerbungen und Absagen später war ich völlig desillusioniert und gab die Hoffnung, einen neuen Job zu finden, der hätte passen können, schon beinahe auf. Doch meine Großmutter hatte mir beigebracht, den Glauben an das Gute zu bewahren. Nachdem mir eine gute Freundin geraten hatte, etwas entspannter an die Sache heranzugehen, nahm ich mir vor, nicht mehr so verbissen bis zu fünf Mal pro Tag das Internet abzusuchen. In der Folge wurde ich tatsächlich ruhiger und erlebte wieder etwas mehr Freude im Alltag.
Und eines Tages, als ich überhaupt nicht mehr damit rechnete, stolperte ich über ein unspektakuläres Stelleninserat, das mir auf Anhieb gut gefiel. Ich hatte zwar keine Ahnung von Personalwesen, aber die ganze Ausschreibung lachte mich geradezu an. Das Inserat war kurz und knackig. Da wurde jemand für die Personaladministration gesucht. Als ich mich schließlich bewarb, war ich verblüfft, als ich zwei Stunden später auch schon eine Eingangsbestätigung erhielt. Normalerweise konnte das bis zu zwei Wochen oder länger dauern. Schließlich hatten die Personalabteilungen auch noch anderes zu tun, wie man mir unlängst bei einer anderen Bewerbung unfreundlich mitgeteilt hatte. Und das hier war kein 08/15-Schreiben, sondern ein herzliches Dankeschön für mein Interesse und meine Bewerbung.
Ich lehnte mich im Stuhl zurück und sah mir die E-Mail mehrmals an. Ich hatte ein gutes Gefühl. Schon zwei Tage später kam der Anruf. Ich wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine sympathisch klingende Frau Bresciani rief mich an und ich konnte durch das Telefon ihr Lächeln spüren. Wir vereinbarten einen Termin, den sie mir umgehend mit allen Details und einem Anfahrtsplan schriftlich bestätigte. Ich war platt. Gab es so etwas wirklich noch? Persönlicher Anruf, eine Firma freute sich auf mich und Reaktionen in so kurzer Zeit auf meine Bewerbung? Ich überlegte, ob vielleicht irgendwo ein Haken sein könnte, denn so gut konnte es doch gar nicht sein.
Bereits drei Tage später war ich unterwegs zur LEBEN AG. Mir kam der Name etwas speziell vor, doch sprach er mich auch auf irritierende Weise an. Der Termin war morgens um halb neun an einem Montag. Nun war es gerade mal acht Uhr, als ich schon auf der Straße einem großen Gutshof entgegenfuhr, der inmitten von Weinbergen und in einer Landwirtschaftszone lag. Ich hielt meinen Wagen an und blinzelte. Zwar wusste ich, dass LEBEN AG Wein verkaufte. Aber auf der Website hatte ich nichts darüber finden können, dass sie auch selber Wein anbauten. Umso erstaunter war ich, als ich in den großen Innenhof fuhr und den Wagen parkte, wobei mich bereits eine Art Feriengefühl beschlich. Es war ruhig hier, nur ein paar Vögel zwitscherten und irgendwo hörte ich ein Pferd wiehern. Ich bestaunte Garagen, Stallungen, ein großes Landhaus und zwei kleine Nebenhäuser. Der große Innenhof lag vor der Außenwelt geschützt und erinnerte mich irgendwie an Italien. Nicht sicher, ob ich in einem Rosamunde-Pilcher-Film gelandet war, sah ich mich um. Das alte Landhaus war riesig und sehr gepflegt. Überall hingen rote und weiße Geranien vor den Fenstern.
Eine ältere Frau in einer Arbeitsschürze, wie ich sie von meiner Oma her kannte, zupfte im Parterre an den Blumen und summte ein fröhliches Lied.
„Grüezi“, sagte sie mit einem Lachen im Gesicht, als sie mich erblickte.
Ich nickte ihr höflich zu und brachte vor Aufregung die Zähne nicht auseinander, um sie ebenfalls zu grüßen. Etwas unsicher suchte ich mit meinen Augen nach einer Tür, die mit LEBEN AG beschriftet war, oder irgendeinen Hinweis auf den Firmeneingang, während die alte Frau mich im Blickwinkel beobachtete.
„Suchen Sie jemanden?“, fragte sie mich schließlich und entblößte mit ihrem Lächeln ihre weißen Zähne.
„Na ja, ich muß zur LEBEN AG“, erklärte ich ihr unsicher.
„Müssen“?, fragte sie lächelnd.
Ich schaute sie verwundert an. Dann zeigte sie mit ihrer Hand auf eine Treppe mit einer Eingangstüre und ging wieder summend zu ihren Geranien.
Im Eingangsbereich des Hauses war es kühl und über einen Steinboden ging es zum Empfang, wo mich eine junge Frau begrüßte. Sie stellte sich mir als „Angelina“ vor, sprach mich mit „Du“ an, was mich nicht im Mindesten störte, und zeigte auf eine große, antike Polsterecke, auf der ich Platz nehmen sollte. Einen Kaffee lehnte ich dankend ab. Mir war klar, dass ich viel zu früh war, und ich rechnete damit, dass ich bis exakt halb neun oder länger warten müsste, so wie bei anderen Unternehmen auch. Diese Machtdemonstration der Führungskräfte war mir schon vertraut.
Ich war irgendwie durch mit dieser Art von Wirtschaftspolitik. Seit Jahren war ich für Arbeitgeber als Angestellte tätig gewesen und hatte stets mein Herzblut in die Positionen investiert. Meist überging man mich jedoch bei der Lohnrunde und nur selten bekam ich etwas ab. Allein durch die teilweise unfreiwilligen Wechsel gelang es mir, mich lohnmäßig zu steigern. Und tatsächlich hatte ich heute kein schlechtes Gehalt, doch seltsamerweise hatte ich immer genau gleich wenig Geld auf dem Konto, egal, wie viel mehr ich verdiente. Mit meinen 38 Jahren zählte ich schon beinahe zum alten Eisen und ohne die Weiterbildung XY war ich zu teuer für einen Arbeitgeber, weil der eidgenössische Lappen fehlte. Berufs- und Lebenserfahrung zählten offenbar nur halb so viel.
Die vielen Regeln innerhalb dieser Unternehmen nervten mich seit vielen Jahren und ich fühlte mich eingeengt. Für zwei Prozent der Verstöße einzelner Mitarbeiter wurden 100 Prozent der Angestellten mit Checklisten und Vorschriften zubetoniert. Ein Atmen am Arbeitsplatz war kaum mehr möglich, von Entfaltung keine Rede. Die ständige Überwachung, die es laut Datenschutz nicht geben durfte, war omnipräsent. Jeder misstraute mittlerweile jedem und jeder schwärzte den anderen an. Wenn ich mir die Webseiten der Unternehmen ansah, bei denen ich mich bewarb, waren das Leitbild, die Vision und die Werte auf heile Welt getrimmt. Hinter den Türen sah es jedoch anders aus. Doch ich musste mir des Öfteren anhören, dass ich zu sehr schwarz-weiß dachte und ohne Wirtschaftsstudium keine Ahnung von diesen Prozessen hätte. Doch ich glaubte nach wie vor daran, dass ein gutes Bauchgefühl etwas zählte. Schließlich musste man kein Wirtschaftsstudium absolvieren, um zu wissen, wie man sich als Arbeitnehmer in diesen Firmen fühlte.
„Colette?“ Ein nicht unattraktiver Mann in Jeans und einem Poloshirt mit irgendwelcher Werbung darauf stand vor mir. Er hatte einen sonnengebräunten Teint. Ich hätte schwören können, dass er entweder segelte oder Golf spielte. Ich erhob mich.
„Ja?“, antwortete ich und gab ihm die Hand.
„Ich freue mich. Ich bin Tony Leben. Ist es okay, wenn wir uns duzen?“
Verdutzt blickte ich ihn an. Kein Anzug, keine Krawatte und auf Augenhöhe mit dem Chef.
„Ja natürlich.“ Mehr brachte ich nicht raus.
„Lass uns auf die Terrasse gehen. Da ist es windstill und die Sonne scheint.“
Etwas unsicher folgte ich ihm aus dem imposanten Gebäude hinaus auf die besagte Terrasse. Es war herrlich mild. Mit Blick auf den Bodensee schien mir die Sonne direkt ins Gesicht, eine mediterran wirkende Ecke mit Rattan-Möbeln lud zum Verweilen ein, und Tony Leben servierte mir höchst persönlich Kaffee, Croissants und Orangensaft.
„Ich bin leider viel zu früh“, entschuldigte ich mich, aber Tony winkte lachend ab.
„Du bist genau richtig! Manchmal ist das ganz gut, früher unterwegs zu sein. Ich habe heute noch viel zu tun, von daher ist dein Timing perfekt. Valentina kommt auch gleich. Und so kannst du den Tag nachher auch wieder optimal nutzen.“
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