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    Leseprobe "Der goldene Schwan und das verzauberte Schloss"

von Mirjam Wyser

Alter: 6 - 16 Jahre, Taschenbuch, 80 Seiten ISBN: 978-3-945509-61-6

Mit 5 ganzseitigen Illustrationen des Künstlers Étienne Pascal

Inhaltsverzeichnis

Herbstzeit
Das geheime Waldschloss
Der goldene Schwan
Die wunderschöne Fee
Die Suche
Das Gruftimonster
Goldenes Herz
Der Jüngling Lilas
Zwei goldene Federn
Winter
Fußstapfen im Schnee
Eine kristallklare Nacht
Danke
Frühling
Ein Kraftort

Herbstzeit

Die Wälder haben sich bunt gefärbt. Die Freibäder sind bereits geschlossen. Gelb sind die Stoppelfelder, farbenfroh die Wälder, und der Herbst beginnt. Unter der herbstlichen Stille der bunt gefärbten Bäume glaubt man, das Arbeiten der Zwerge in der Erde zu hören. Auch die Feen sind wichtige Arbeiterinnen. Sie sprechen mit den Blumen, den Pflanzen, den Bäumen und den Tieren. Die ganze Natur bereiten die unsichtbaren Naturwesen durch ihr fleißiges Arbeiten für die nächste Jahreszeit vor. Die ganze Natur ist mit goldenen Fäden der fleißigen, unsichtbaren Arbeiterinnen verbunden. Sie verschmelzen zu einer Einheit. Durch ihr fleißiges Werken leisten sie einen großen Dienst während den Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Entsteht durch falsches Handeln der Menschen in der Natur ein Ungleichgewicht, versuchen die Naturwesen mit ihrer unermesslichen Hingabe, den Schaden wieder auszubügeln. Wird die Natur krank, dann leiden auch die Feen, die Zwerge, die Baumgeister und schlussendlich die Menschen und die Tiere. Nach getaner Arbeit singen die Feen. Die Zwerge lieben den einzigartigen, lieblichen Gesang. Er ist das Schönste, was es in der ganzen Natur zu hören gibt. Die Winde verbreiten diese zauberhaften Töne durch die Luft und tragen sie über Feld und Wald, ja sogar über die ganze Mutter Erde.

Feen und Zwerge werden auch Naturgeister genannt. Alle Wesen im verborgenen Himmelreich verfügen über Zauberkräfte. Diese Wesen leben überall: in den schwindelerregenden Höhen der Bäume, in den Hecken unserer Vorstadtgärten, in den Blumen, Feldern und Gemüsegärten und in der Erde. Auch, wenn die Menschen es nicht glauben, brauchen uns die Feen und die Zwerge.

Christopher und Stefania radeln mit ihren Fahrrädern durch die abgeernteten Felder. Das Mädchen trägt ein rotes Haarband. Ihre braunen Haare flattern im sanften Wind. Der Feldweg schlängelt sich durch die Landschaft. Noch ein paar Windungen, dann haben sie den Waldrand erreicht. Eine verwitterte, hölzerne Bank lädt zum Verweilen ein. Sie machen eine Pause und essen die mitgebrachten Brote und Äpfel.

Der Wind ist etwas stärker geworden. Sie schauen den Blättern zu, wie sie durch die Luft gewirbelt werden. Ganz feine Dunstschleier schleichen über die Felder. Im Hintergrund zeichnet sich das kleine Städtchen ab, in dem sie wohnen. „Bald wird die ganze Natur in den tiefen Winterschlaf gehen!“, meint Christopher.

Plötzlich kreist hoch über ihren Köpfen ein Mäusebussard. Die ganze Erde dreht sich unter ihm. Er segelt mit weit ausgebreiteten Flügeln und es scheint, als suche er nach einer Beute. Dann dreht der Vogel langsam ab und verschwindet wieder. Plötzlich ist er wieder da. Die Kinder haben das Gefühl, dass der Vogel gar keine Beute sucht, sondern ihnen etwas zeigen will.

Er kreist solange über ihren Köpfen, bis sie ihre Fahrräder nehmen und ihm folgen. Tatsächlich fliegt er voraus. Dann wird der Wald dichter, die Wege schlechter. Sie steigen von ihren Rädern und beraten.

„Wollen wir dem Vogel weiter in den Wald hinein folgen?“, fragt Christopher. Stefania zögert etwas, lässt sich aber überstimmen. Sie besteigen wieder ihre Fahrräder. Der Wind raschelt in den Blättern, als wollte auch er seine Meinung kundtun.

Der Mäusebussard fliegt majestätisch seine Kreise über ihren Köpfen, so als würde er warten, bis die Kinder wieder nachkommen. Der Waldweg wird noch holpriger. Schlaglöcher, Wurzeln und zum Schluss ist er noch mit wildem Gebüsch überwuchert. Die logische Folge wäre umzukehren. Doch die beiden denken nicht daran. Was sie vorwärts treibt, wissen sie nicht. Dann hört der Weg ganz auf. Über umgeknickte Baumstämme stemmen sie die Fahrräder.

„Wollen wir wirklich weiter?“, fragt Stefania etwas besorgt. Kaum hat sie ihre Zweifel ausgesprochen, kreist wieder der Mäusebussard über ihnen. Der Vogel zwinkert ihnen mit einem Auge zu. Die Kinder schauen zum Himmel und rätseln: „Was will der Vogel uns wohl mitteilen? Gehen wir noch ein Stück!“, beschließt Christopher und Stefania folgt ihm mit flauem Magen.

Und dann stehen sie vor einer ururalten Mauer, die ein herrschaftliches Haus abschottet. Die alte Mauer ist fast nicht sichtbar, so sehr ist sie mit Efeu und anderem Unkraut überwuchert. „Ein verwünschtes Schloss?“, wispert Stefania aufgeregt. „Unheimlich, ja fast gespenstisch ist es hier!“

Christopher winkt ab. Sie stellen die Fahrräder an einen Baum und laufen neugierig die Mauer entlang in der Hoffnung, einen Eingang zu finden. Tatsächlich haben sie Glück. Zwar finden sie kein Eingangstor, doch an einer Stelle ist die Mauer oberhalb etwas abgebröckelt. Die Idee kommt auf, über die Mauer zu klettern. Ein kleiner, umgeknickter Baum sticht den beiden Abenteuersuchenden ins Auge. Er wird herangeschleppt, an die Mauer gestellt und dient nun als Leiter. Mutig klettern sie an dem Baumgerippe hoch und mit einem Sprung landen sie in einem ungepflegten Park. Der große Vogel kreist wieder über ihren Köpfen.

Im Hintergrund steht mit abgebröckelter Fassade ein altes Waldschloss. Die Fensterläden sind geschlossen. Die Kinder staunen verblüfft. „Hast du gewusst, dass es hier ein Waldschloss gibt?“, fragt Stefania verwundert.

„Nein, ich habe noch nie etwas von einem Waldschloss gehört!“, antwortet Christopher genau so überrascht. „Lass uns doch das Schloss genauer ansehen.“ Der Nervenkitzel hat sie endgültig gepackt.

Vorsichtig schleichen sich die Kinder zum Eingang und klopfen mit dem Messingtürklopfer, der einen Schwan darstellt. Daneben gibt es zusätzlich eine alte Klingel. Stefania drückt sachte darauf. Ein schriller Ton erschrickt sie. Zum Erstaunen funktioniert die Klingel tatsächlich noch. Eine ganze Weile warten Christopher und Stefania geduldig. Nichts bewegt sich oder lässt darauf schließen, dass jemand dieses Haus bewohnen würde. „Wollen wir doch lieber zurückgehen. Es ist unheimlich hier! Vielleicht wohnen da Räuber?“, flüstert Stefania.

Christopher zuckt zuerst mit den Schultern und überlegt lange. Dann schüttelt er entschlossen den Kopf. Seine Abenteuerlust ist nicht mehr zu bremsen. Jetzt, so kurz bevor sie das Geheimnis des Schlosses gelüftet haben, will er sicher nicht aufgeben. Währenddessen kreist immer noch der Vogel, als möchte er sagen, dass sie schon richtig sind. Das gibt den beiden Mut, weiter zu erkunden.

Niemand scheint hier zu wohnen. Sicherheitshalber klingeln sie nochmals etwas länger und heftiger und poltern mit den Fäusten an die Tür. Der Klingelton und das Poltern sind wirklich unüberhörbar.

„Wenn niemand da wohnt, müssen wir uns auch vor nichts Bedrohlichem fürchten!“, murmelt Christopher und gibt sich dadurch selbst den nötigen Mut, nicht umzukehren.

+++ +++ +++

Textprobe: Mirjam Wyser

© 2017 Franzius Verlag GmbH

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